Montag, 17. September 2018

Elly Fraser - das verschollene Mädchen


(Leseprobe) 

Plötzlich riss sie die Augen auf uns schnappte erschrocken nach Luft. Ein leises Zischen entwich nur ihren ausgetrockneten Lippen. Im Glanz ihrer Tränen spiegelten sich dunkle Regenwolken, die schwer und bedrohlich über ihr hingen. Erneut versuchte sie nach Luft zu ringen, doch ihre Lungen ließen nichts als ein weiteres Zischen zu. Sie zitterte am ganzen Körper. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Himmel. Sie bohrte verkrampft ihre Finger in die matschige Erde, doch sie konnte keinen Halt finden. Schwindel überkam sie und drückte sie noch tiefer in die Erde, auf der sie lag. Der Regen fiel prasselnd auf sie hinab und wusch die blutigen Flecken ihres Kleides sauber. Ihre schweren Augenlider schlossen sich. Ihre Brust senkte sich und hob sich nicht wieder.

„Das macht dann genau 27,95 Pfund, bitte!“, sagte die Verkäuferin und öffnete die Hand. Sie lächelte ihn an. Marc blickte zur Seite und legte das Geld auf das Laufband. „Stimmt so!“ sagte er abwesend, und verschwand mit seiner überfüllten Einkaufstasche in der Menschenmenge. Überrascht hob die Verkäuferin den 50 Pfund Schein auf und schrie ihm hinterher: „Hallo Sir! Hallo! Sie bekommen noch Wechselgeld!“ Doch Marc war schon weg. Vor dem Supermarkt wartete Samir mit laufenden Motor auf ihn. „Fahr los“ befiel Marc hektisch und ließ sich auf dem Beifahrersitz aufatmend fallen. Er stellte die Einkaufstasche zwischen seine Beine ab und kramte zwei Dosen Energy heraus. „Hau rein“ sagte er und hielt Samir eine Dose vors Gesicht, „und gib Gas!“
Die Kohlensäure vom Energy zischte hungrig, während er den Verschluss öffnete. Mit müden Lippen fing er den auslaufenden Schaum auf und blickte starr auf die Straße. „Elly“ flüsterte er abwesend. „Elly, wo bist du nur?“


Die Bernsteinschwestern

(Leseprobe)


„Lauft weiter, Olivia! Lauft!“
Mit ihren großen Körben voller Äpfeln lief die alte Gritt hinkend an Olivia vorbei und blickte erschrocken zurück. „Lauft weiter, bleib auf keinen Fall stehen, hörst du! Bleib auf keinen Fall stehen!“
„Ja!“ Schrie Olivia ohne aufzublicken, „Ich, ich laufe ja! Wir laufen!“
Doch da war die Alte schon längst abgebogen und hinter der Straßenbahn ganz verschwunden.
Olivia lief weiter geradeaus. An einer Hand zog sie Betty hinterher, an der anderen die kleine Lotte, die mit ihren kleinen Füßchen schon gar nicht mehr den Boden zu berühren schien. Olivia schnappte sich ihr Kleinstes im Fluge und schwang sie sich kraftvoll auf die Hüfte. Sie hoffte verzweifelt, so schneller voran kommen zu können. „Betty, mein Schatz, du musst schneller laufen!“ flehte sie keuchend ihre ältere Tochter an und zog sie noch schneller hinter sich her. Die Mütze war der Kleinen längst verrutscht und hin ihr tief ins Gesicht. Durch das holprige Laufen auf dem unebenen Kopfsteinpflaster zitterten ihre Wangen und die Tränen, die ihre Augen füllten, fielen wie tonnenschwere Granaten auf ihrem türkisfarbenem Mantel.
„Ich kann nicht mehr! Mama, ich kann nicht mehr!“ wisperte Betty stotternd vor sich hin und wischte sich mit ihrer Stoffpuppe über das Gesicht, während sie immer einen Schritt hinter ihrer Mutter lief, die sie rasend hinter sich herzog. Olivia fragte sich, seit wann Lotte nur so schwer geworden war. War sie doch vor eineinhalb Jahren noch gar nicht geboren. Mit jedem Schritt, den die drei gemeinsam durch die Straßen rannten, legte sich die schwere Last der Knochen wie ein Bleimantel über ihre Körper.
Es schien, als würden die Sterne aus dem Weltall hinunterfallen. Der Himmel teilte sich in Milliarden leuchtenden Kugeln, die hell leuchtend gegen die Erde schossen. Sie knallten mit lauten Zischgeräuschen in den Boden und hinterließen große, brennende Löcher.
Olivia und all die anderen Menschen in der Stadt liefen. Sie liefen um ihr Leben, wie kleine Schachfiguren geführt von einer riesigen Hand zwischen den von oben herabfallenden Feuerkugeln.
Olivia und ihre Mädchen wussten nicht wohin. Nur gerade aus, der Menschenmenge hinterher.
Ein Feuerball traf die Straßenbahn, die wie ein tosendes Feuerwerk in Feuer aufging. Ein Meer von Äpfeln wurde durch die Luft gewirbelt und fanden ihre Ruhe direkt vor Olivias Füßen. „Die Alte! Oh Gott, die alte Gritt!“ wimmerte Olivia mit weit aufgerissenen Augen. Tränen schossen ihr empor.  Erschrocken riss sie Betty ganz nah an sich ran und wendete mit ihren Töchtern. Sie bog in eine enge Seitenstraße ein, deren Dächer so nah beieinanderstanden, dass die Feuerbälle vom Himmel wenig Durchgang fanden. „Mama, wir müssen bei den Menschen bleiben, hat die Alte gesagt.“ Olivia liebt Bettys gerechte und oft belehrende Art und Weis, jedoch nicht an diesem Tag. Nicht heute. „Mama, wir laufen falsch!“ Schrie Betty ihre Mutter mahnend an und riss sich will von Mutters Hand weg.
Olivia blieb stehen und starrte Betty an. „Bückt euch!“ erschrocken vom lauten Knall eines herunterfallenden Balkens, drückte Olivia plötzlich ihre Kinder fest gegen eine Hausmauer, schutzsuchend unter einem breiten Dachvorsatz des halb abgebrannten Barbiershops. Schützend beugte sie sich über beide Mädchen und presste die Gesichter der Kinder fest an ihre Brust. Betend blickte sie nach oben, wie die Feuerbälle kreuz und quer über sie hinwegflogen. Sie hörte die verzweifelten Schreie der Menschen auf den Straßen. Ein brennender Mensch lief schreiend an ihnen vorbei, bis er sich in den Pfützen der nassen Stadt aufgegeben hatte. „Mami, ich habe Angst! Wann hört das auf?“ – „Gleich Schätzchen“ flüsterte Olivia leise weinend und stich Lotte sanft mit ihren Lippen über die Stirn. „Gleich!“




Das Mädchen Suri

(Leseprobe)

„Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“ Seine Stimme klang ungewohnt kraftlos. Seine Augen musterten sie unruhig. „Es tut mir leid, ich dachte, …“ Sie drehte den Kopf beschämt zur Seite und blickte in die weite Ferne hinaus.
„Suri,“ sagte er kaum noch hörbar und griff verlegen nach ihrer Hand. Doch sie zog ihre Fingerspitzen aus seinen Fängen blitzartig zurück und versteckte sie, unter den Spitzen ihres Kleides, in ihrem Schoß. Er beobachtete, wie sich das Azur ihrer Augen mit plötzlich aufsteigenden Tränen vermischte und in der Abendsonne wie ein Malahit glänzten. So wunderschön war Suri, sogar wenn sie weinte.
Sie saß, mit angezogenen Beinen unter der alten Linde am Felsenvorsprung von Galtymore, wo letzten Sommer alles begann. Dort, wo sie jenes Geheimnis entdeckten, das die Menschheit seit über 7 Jahrtausenden vergessen hatte. Er sah Suri traurig an und spürte, dass ab heute nichts mehr so sein wird, wie es mal war.
Er kniete sich langsam vor sie ins Gras, das von sanften Wind wie in Trance geschaukelt wurde. Sie schaute ihn nicht an, ihr Blick war in der Ferne festgefroren. Suris Tränen fanden ihren Weg über die Wangen und fielen tonnenschwer auf ihr weißes Kleid. Zärtlich wollte er ihr eine Träne wegwischen und strich sanft mit seinen Fingern über ihre Wange. Entsetzt sprang Suri plötzlich auf. Ruby verlor dabei sein Gleichgewicht und viel rücklings ins Gras. Erschrocken sah er Suri an und hatte zum ersten Mal dieses fremde Gefühl des Unbehagens. Er fesselte sie kurz mit seinem fragenden Blick. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, drehte sich Suri um und stürzte sich ohne Vorwarnung vom Klippenvorsprung hinab.
„Suri! Nein!“ Auf allen Vieren krabbelte Ruby zum Felsenvorsprung. Er hielt den Atem an und blickte erschrocken in die Tiefe. Suri schoss wie eine Rakete Richtung Erde. Ihr langes rotes Haar flatterte ihr hinterher. „Suri“ sagte er ein letztes Mal, bevor sie kurz vor der Erde ihre Flügel ausbreitete und kehrt wendend zurück in den Himmel flog. Weit weg, durch die Wolken hindurch, als wäre sie nie dagewesen.

Ausländerkind