Freitag, 4. September 2015

Die Welt gehört in Kinderhände

Drama um ein Flüchtlingskuscheltier in Regensburg

und wie ein kleiner deutscher Junge seiner Mutter die Welt erklärte 





September 2015, Deutschland, Regensburg 

Eine Mutter mit 3 Kindern, zwei zu Fuß, eines im Buggy sitzend, überquerten bei Grün die Straße. Die Mutter, Mitte 20, trug eine Jeans und ein Galabia-ähnliches knielanges braunes Kleid. Unter ihrem Leo-Print Kopftuch verbarg sich eine Pracht an Haaren, was die große Wölbung am Hinterkopf erahnen lies. 
Eine wunderschöne Frau. Eine wahnsinnig traurige Frau. 
Im Eilschritt über die Straße, mit einem kleinen Mädchen an der Hand und dem Bügel des Buggies in der anderen, ermahnte sie in fremder Sprache und mit weit aufgerissenen Augen das dritte, wohl älteste Kind, ebenfalls ein Mädchen, wunderschön mit langen geflochtenen Zöpfen und einem blauen, viel zu großem Kleid, das offensichtlich den Anschluss an die Gruppe verlor, hinter ihnen hertrottete und mit tristen, ja fast schon melancholischen Blick ins Leere, durch die Autos hindurch, zu träumen schien. 

Ich stand am Bürgersteig, vertieft in einer Nachricht auf meinem Smartphone. Die Mutter mit den 3 Kindern gingen an mir vorbei. Der Kleine im Buggy lächelte mich an, ich lächelte zurück. Diese wunderschönen schwarzen krausen Haare! Diese schönen, dunklen.... oh mein Gott! - Ihm fehlte ein Auge! Ihm fehlte ein Auge? - Herrgott, mein Herz stockte. Meine Atmung stoppte! Über sein linkes Auge verlief eine kurze, dicke, verknubbelte, dunkle Narbe. Das Auge war komplett weg, es war nur eine Narbenwulst zu sehen! Ich hätte, vor Schreck, augenblicklich laut zum Weinen anfangen können. Mir war danach, mich auf die Knie zu werfen, vor diesem kleinen Geschöpft und ihn einfach in den Arm zu nehmen. Er schien nicht viel jünger als meine Tochter zu sein. Meiner Tochter mangelt es an gar nichts! Sie lebt behütet und in Frieden, im Überschuss und im freiheitlichem Reichtum..., meiner Tochter fehlt es an gar nichts - während diesem kleinen Jungen mit dem wunderbaren krausem Haar - ein Auge fehlt! Das Traurige daran ist die Erkenntnis, dass dieses Gebrechen NUR das ist, was wir tatsächlich sehen. Alles andere Leid bleibt uns verborgen und somit fast schon unglaublich unvorstellbar für uns. 
... doch ich lächelte ihn weiterhin liebevoll an,  hoffend, dass die Mutter -oder er- mein erschrockenes Herz nicht sieht! 
Sie gingen vorbei, sie schienen angespannt. Anscheinend erklärte die aufgebrachte Mutter der ältesten Tochter die Gefahren der Straße noch einmal. Sie beachteten mich gar nicht.
Ebenso beachteten sie den heruntergefallenen Stoffhasen oder -Maus (nicht identifizierbar) des Jungen im Buggy nicht. Sie entfernten sich im Eilschritt und ich war zu verdutzt um zu reagieren. 
Der Maushase lag am Boden, die Familie zog weiter.
Augenblicklich riss sich ein vorbeigehender Junge, von der Hand seiner Mutter los und rannte in Richtung Maushase mit den lauten Worten: "haaaalloooo, du hast deinen Teddy verloooooren, stop mal!" Die ausländische Familie stoppte, hatten wohl auch soeben den Verlust bemerkt. Alle drehten sich um, der Kleine im Buggy fing an zu weinen.
Eine schrille und zutiefst fordernde Stimme aus dem Off erschreckte ganz Regensburg; "NEIN!!" 
- es hallte durch alle Straßen -
"Neeein! Malte berühr DAS nicht! Wehe....Malte, lass DAS sofort wieder los! Pfui Malte!" Im Eilschritt zu Malte kochte die mittreißigerin, mit wilder roten Langhaarmähne, in Caprihose und Lacoste Poloshirt, während sie, bereits im Laufschritt zur Gefahrenzone, die Sagrotantücher aus ihrer Handtasche rauskramte, vor Entsetzen.

Die Welt stand für alle Menschen, drumherum, still. Alle blieben beobachtend stehen.
Wir waren erstarrte Gäste dieses entsetzlichen Spektakels, deren Ende sich niemand vorstellen konnte.

"Malte! Um Himmels Willen, wirf DAS sofort wieder hin!
DAS da gehört DENEN dort!!" 

Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie dabei auf die Mutter mit ihren 3 Kindern, während ihr Blick Lebensbedrohung signalisierte.
Sie riss ihrem Sohn die Stoffmaus aus der Hand und knallte sie mit tonnenschwerer Wurfkraft auf die Straße. 
"Weg damit, tu sowas nie wieder, hörst du?!?"

Zutiefst geschockt und erschrocken wagte ich meinen Blick zur Stoffhasenmaus Mama wandern zu lassen, die bereits beide Hände über ihren Wangen gelegt hatte. Eine weitere Bewegung von dieser Familie aus war nicht zu sehen. Sohnemann im Buggy weinte auch nicht mehr. Er guckte nur verwundert! 
Ich wollte einschreiten, mein Handy glitt in die Handtasche, ich schluckte meinen sauren Speichel hinunter und machte mich im militärischen Schritt zu Malte und seiner "besorgten" Mutter. Ich spürte Wut in mir, das wollte ich diese Frau wissen lassen!

Doch es kam alles ganz anders:
Malte, ca. 5 Jahre alt, widersetzte sich auf eine sehr wundersam ruhige Weise seiner Mama. Seine kindliche, reine Seele sprach Wunder: 
"...aber Mamaaaaaa, DAS ist doch nur ein Teddybär! Der Bub hat ihn verloren und ich wollte ihn nur zurückgeben!" er hob das Stofftier auf und hielt ihn seiner Mama entgegen: "siehst du Mama, NUR ein Stofftier! Du musst keine Angst davor haben!"

Er wandte seiner erstummten Mutter den Rücken zu und lief zum Stofftierbesitzer im Buggy: "Hallo, dein Teddy, ich habe ihn gerettet!" (wovor dachte ich mir? Vor seiner paranoiden Mutter oder vor dem Alleingelassenwerden auf dem Bürgersteig?)
Malte legte das Stofftier in den Buggy, auf des kleinen Jungen Schoß. Dieser schnappte ihn sich sofort und hielt ihn kuschelnd an seine Backe, sein fehlendes Auge bedeckend. 
Die kleinste der zwei Schwestern, mit kurzem Haarschnitt und einem Haarreifen voller bunter Blümchen, streichelte Malte über die Schulter und sagte: "Danke Freund!" und lächelte verschämt. Die Ältere im blauen Kleid, ging in die Hocke neben Malte und beobachtete ihn, ebenfalls lächelnd. Die Mutter der Kinder jedoch schaute über die Kinder, die gerade Freundschaft schlossen, weit hinaus zur anderen Mutter, die genervt ihre rote Mähne zurecht zuppelte. 
Die Rothaarige zischte vor Wut.
Die Wunderschöne, in brauner Galabia, weinte leise.

Atemstillstand in Regensburg - zumindest in Weichs - 

Im selben Augenblick schoss ein altes Lied durch meine Venen, ein alter Rhythmus ergriff meinen Herzschlag, eine Innere Stimme sang in meinem Kopf: 
... "gebt den Kindern das Kommando, sie berechnen nicht was sie tun. 
Die Welt gehört in Kinderhände, dem Trübsinn ein Ende; 
wir werden in Grund und Boden gelacht
 - Kinder an die Macht!" 
(Herbert Grönemeyer)

Nachwort:
Ich bin immer noch ganz verwirrt und betroffen.
Was hatte mich nun mehr geschockt? 
Der harte Schicksalsschlag dieser (vielleicht) Flüchtlingsfamilie, mit einem Kind, dessen Auge auf grausamer Art und Weise verloren ging - ODER - die grausame Reaktion, das primitive und rassistische Gesamtverhalten der deutschen Frau, gegenüber einer ausländische Familie?
Ich weiß es nicht!
... mich hat beides sehr getroffen!


Was ich kürzlich noch so im Netz fand:


»Auf der Flucht hat meine Mutter immer gesagt, wir Kinder müssen still sein, damit man uns nicht entdeckt. Ich hatte so viel Angst, durfte es aber nicht zeigen.« Mädchen aus Syrien, 14 Jahre   

»Immer wieder hörten wir nachts Schüsse, bis sie eines Tages bei uns ins Haus eindrangen und meinen Vater mitnahmen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« 
Junge aus Afghanistan, 17 Jahre

»Meine Mutter sagte zu mir: rette du wenigstens dein Leben. Und dann bin ich losgezogen. Die Flucht hat ein Jahr und fünf Monate gedauert, bis ich in Deutschland angekommen war.«
Junge, unbegleitet minderjähriger Flüchtling, aus Somalia, 17 Jahre 

»Meine Verwandten haben immer wieder gesagt, komm nach Europa, wir werden dir helfen. Als ich in Griechenland ankam, wollten sie nichts mehr von mir hören. Ich war ganz allein.«
Junge, unbegleitet minderjähriger Flüchtling, aus Afghanistan, 16 Jahre 

»Und eines Tages wird der große Drache alle Bösen auffressen!«
Junge, 6 Jahre, aus Kongo 

»Es gab Feuer im Boot, die Küste war in Sicht, um zu überleben, sprangen wir ins Meer, einige konnten nicht schwimmen. Am Strand wartete ich noch stundenlang auf einige bekannte Gesichter, die von einem besseren Leben träumten. Ich sah sie nie wieder. Das Meer hat sie behalten.« 
Junge, unbegleitet minderjähriger Flüchtling, aus Afghanistan, 17Jahre

»Wir waren viele Tage lang in der Sahara, ich dachte ich will überleben, ich brauche Flüssigkeit, ich trank meinen eigenen Urin.«  
Junge, unbegleitet minderjähriger Flüchtling, aus Somalia 19 Jahre 
(http://www.tdh.de/was-wir-tun/arbeitsfelder/fluechtlingskinder/meldungen/zitate-von-fluechtlingskindern.html)

Ausländerkind