Freitag, 17. November 2017

In den Stiefeln meines Vaters

eine deutsche Nachkriegsgeschichte

Boots drawing by Robert Tomlin
Es geschah vor vielen, vielen Jahren, meine Lieben, als ich noch ein kleiner Junge war.
Da lebte ich mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester Marion in einer Holzhütte, dicht neben der alten Stadtmauer. Der Krieg war vorbei, doch Gott hatte uns noch nicht wiedergefunden. Meine Mutter hatte keine Arbeit und mein Vater ist nicht mehr aus dem Krieg heimgekehrt. „Ich bin bald wieder da! Pass gut auf Mama und Marion auf.“ flüsterte er mir ins Ohr, damals, als sie kamen, um alle Männer zu holen. Ich nickte widerwillig. Er küsste mich sanft auf die Stirn und hielt mir seine Stiefel entgegen: „bis dahin, bist du der Mann im Haus!“
Doch die Jahre vergingen und kein Abend brachte uns unseren Vater wieder.

Als mein Vater noch bei uns war, da war alles ganz anders. Wir gingen gemeinsam in den Wald um Feuerholz zu sammeln, wir taten dies jeden Abend. Das war die Zeit, in der ich meinen Vater für mich alleine hatte, es war eine wunderschöne Zeit. Er redete gerne, und erzählte mir von den Wäldern, den Menschen und Tieren und von Gott.
Hätte ich mir jemals erträumen lassen, dass er jemals von uns gehen muss, dann hätte ich seine Nähe mehr genossen, dann hätte ich ihm nie widersprochen, ich hätte ihm alles recht gemacht. Hätte ich jemals geahnt, dass er nie wiederkommt, hätte ich niemals seine Stiefel angenommen. Doch es kam wie es kommen sollte, er war weg, und ich wurde der Mann im Hause, denn ich trug ja seine Stiefel.
Ich spielte oft mit dem Gedanken, die Stiefel einfach wegzuwerfen. Ich wollte nicht mehr der Mann im Hau sein. Vielleicht würde Vater dann zurückkommen, weil ja jemand auf Mutter und Marion aufpassen musste. Doch, das Risiko war zu groß, dass Gott meinen Plan durchschaut und ich so meinen Vater nicht zurückbekommen würde. Außerdem waren die Stiefel alles, was ich von Vater noch besaß. So ging ich also Abend für Abend alleine in den Wald und kam erschöpft mit Feuerholz nach Hause. Für die Schule war ich am nächsten Tag immer zu müde. Die Lehrerin zog mir die Ohren lang, wenn ich im Unterricht einschlief und von den alten Geschichten meines Vaters träumte, die, die mich so wahnsinnig nach ihm machten.

Manchmal stellte ich mir vor, der Krieg hätte meinen Vater gar nicht verschlungen und dass er eines Tages, glücklich lächelnd, einfach so, wieder in unserem Wohnzimmer steht und sich die Hände am Kamin wärmt, als wäre er nie weg gewesen. Ich stellte mir vor, dass er seine Stiefel einfach wieder selber trägt.
Meine arme Mutter klagte nicht. Bestrafe mich Gott, würde ich die Unwahrheit sprechen, doch diese Frau hat nie geklagt. Jede Nacht hörte ich sie weinen und sich in Sehnsucht nach meinem Vater in Tränen ertränken, doch am nächsten Morgen, glich sie sich der Gestalt einer starken Frau an. Ich bewunderte ihr Stärke und ihre Kraft und dennoch brauchte sie meinen Schutz und meine Hilfe. Sie war eine bemerkenswerte Frau, meine Mutter.
Jeden Abend, nach meiner Rückkehr mit Feuerholz, erwartete mich sie mich mit einer Schüssel lauwarmen Wasser und einem Stück wachsgelber Kernseife. Sei wusch mich, dann aßen wir zusammen zu Abend, ein Stück Speck mit Kartoffeln, oder ein Laib Brot, wenn dem Müller abends etwas übrigblieb. Manchmal sammelte Marion heruntergefallene Esskastanien vom Bauernmarkt auf oder arbeitete für einen Liter Milch im Kuhstall, bei der alten Berti mit.
Jeder Abend glich dem anderen, jeder Abend brachte den selben Morgen, jeder Morgen brachte den selben Abend. Doch kein Abend brachte uns unseren Vater zurück. Und jeder Morgen war einsamer als der vergangene und nicht so einsam wie der, der noch kommen mag.

Doch eines Abends geschah etwas, was keiner von uns jemals zu glauben vermochte.
Ich zog meine Mütze und den alten Rock an, schnürte die viel zu großen Stiefel meines Vaters zu und wollte mich etwas früher als gewohnt, auf dem Weg zum Holzsammeln machen.

Mutter hatte einige Äpfel von Marions Lehrerin bekommen. Die bekam sie immer als Dank, wenn sie für Frau Lehnchen etwas nähte. Dieses Mal war es eine Tischdecke, mit kleinen roten Blüten darauf. Heute sollte es also Bratäpfel geben. Benebelt von der köstlichen Vorstellung, nahm ich die alte Karre, die ich hinter der Hütte, gegen die alte Stadtmauer angelehnt hat und klopfte den Schnee von ihr runter. Ich zündete die alte Laterne an, und schlenderte los.

Es war eine besondere Nacht. Es war Heilig Abend. Durch halbgeschlossene Fensterläden sah ich Kinder, Eltern und Großeltern am Tische sitzen, ringsherum ein heller Schein der holden Weihnachtskerzen. Ich zog vorbei, an den Häusern voller Freude und Feierlichkeit. Väter die ihre Kinder laut jauchzend durch die Lüfte schwangen, singende Menschen die glücklich von der Kirche hinausstürmten, ein kleiner Junge der mir „fröhliche Weihnachten“ zurief. Ich sah lachende Mütter und schaute kein einziges Mal zu unserer dunklen, traurigen Hütte zurück.

Keuchend schob ich den leeren Karren vor mich hin und blies die kalte Wintersluft aus meinen Lungen hinaus, als würde ich den Rauch einer billigen Zigarre ausatmen. Die Nacht war bitterkalt und klirrende Kälte lies langsam alle Lebewesen zum Erbarmen frieren. Der eisige Schnee knirschte unter den, mir viel zu großen väterlichen Stiefeln.
An meiner Mütze bildete sich langsam ein kleiner Eiszapfen, ich brach ihn ab und lutschte voller Gier daran. Das dämpfte zumindest meinen Hunger und der Gedanke an die heißen, saftigen Bratäpfel verging allmählich.
Der Weg zum Wald war nicht weit, doch in dieser Nacht schien er mir besonders lang. Ich folgte dem kleinen Pfad, den mein Vater früher immer mit mir gegangen war. Ich hörte ihn schon sagen: „Tritt immer schön in meinen Spuren, Junge. Dann fällt dir das waten durch den frischen Schnee nicht so schwer!“ Nun war er nicht mehr da, und ich hatte keine einzige Spur mehr, die mir den Weg erleichtern konnte. Ich blickte aber immer wieder gerne zu meinen eigenen Fußspuren im Schnee zurück und stellte mir vor, mein Vater hätte sie gemacht. „Vater, nicht so schnell, ich komm ja kaum noch nach“ flüsterte ich unter Tränen, und ging alleine meines Weges weiter.
Oh, heilige Maria Mutter Gottes, wie sehr mir mein Vater fehlte, wie sehr ich ihn mir doch ersehnte.
Die Karre wurde immer schwerer, obwohl noch kein einziges Ästlein darin war. Ich entschloss zu rasten, blieb stehen und zog den Wagen aus dem Weg. Erschöpft lehnte ich mich an ihn an und brach mir einen zweiten Eiszapfen vom Mützenrand ab und gerade, als ich ihn in den Mund stecken wollte, entdeckte ich sehr seltsame Spuren im Schnee.
Ich beugte mich nach vorne, ging auf die Knie und blieb voller Erstaunen im Schnee hocken. Die nasse Kälte des Schnees drang durch die Hose und schmerzte an meinen Beinen.
„Heilige Maria Mutter Gottes“, dachte ich verwirrt und folgte neugierig den Spuren durch den Tiefschnee. Die wichen von meinem Pfad ab und führten ins Innere des Waldes.
Ich stampfte durch den schweren Schnee hindurch. Mir war kalt, dass Gott erbarm, aber ich konnte jetzt nicht mehr umdrehen, denn ich wollte zu gern wissen, wem wohl diese wunderbaren Abdrücke im Schnee gehörten. Ich hielt meine Laterne zitternd immer weiter in die Höh, weil die Dunkelheit keinen Durchblick mehr erlaubte.
Ich wanderte durch den dichten Tann, an verschneiten Tannenzweigen entlang und mein Blick wich keinen Augenblick von den Spuren im Schnee.
Und ich muss ehrlich zugeben, Gott möge mich bestrafen, würde ich die Unwahrheit sprechen, aber plötzlich geschah es, dass alles rings um mich hell wurde und ich von dem Glanz und der Pracht dieses Anblickes geblendet war. Meine Laterne ging aus. Ich blieb erstarrt stehen

Heilig Maria, Mutter Gottes, ich glaubte, ich träumte. Ich war mir gewiss, die Kälte würde ein übles Spiel mit mir treiben, ich war mir gewiss ich träumte das alles gerade nur.
Aber die  Kälte wich allmählich, der Eisdampf meines Atems verschwand, die nasse Hose tat nicht mehr weh und die eisigen Füße in Vaters Schuhe waren wohlig warm. Ein sanftes Licht erhellte die finstere Nacht.
Meine Seele war voller Wärme und Freude, mein Herz voller Glück und Zufriedenheit. Meine Gedanken waren leer und meine Worte waren stumm.
„Ist da jemand?“ flüsterte ich, wild umherblickend, durch die stille Nacht. „Hallo?“ Doch kein Geräusch war mehr zu hören. Die Welt hielt den Atem an.
„Vater“ dachte ich. „Vater, wärst du doch hier.“ Ich hatte nie wieder, seitdem mein Vater in den Krieg gezogen war, dieses Gefühl der Vollkommenheit und Freude empfunden und lächelte dem Himmel, zwischen den hell erleuchteten Baumkronen, entgegen.
Da, mir erschrocken fiel ein, dass ich kein Holz fürs Feuer gesammelt hatte, wo meine Mutter heute, am Heilig Abend, die Bratäpfel für uns zubereiten wollte. Doch das schien mir egal zu ein. Ich wollte nichts anderes, als sofort nach Hause zu kommen. Ich musste meiner Mutter und Marion unbedingt von diesem wunderbaren Geschehen berichten. Ich packte meinen Karren und die erloschene Laterne, rückte meine vereiste Mütze zurecht und stampfte Richtung heimwärts durch den hohen Schnee, durch die engen Bäume.
Ich war so glücklich und konnte es nicht deuten.
Und da, ich war bereits an meiner heimatlichen Hütte angelangt und wollte den Karren an die alte Stadtmauer anlehnen, da nahm ich fröhliche Stimmen und einen köstlichen, heißend dampfenden Bratapfelgeruch wahr. Verwirrt blieb ich stehen und lauschte. Und tatsächlich, entnahm ich dies alles aus dem Inneren unserer armen Hütte. Ich traute meinen Ohren kaum, noch traute ich meinen meiner Nase, die diesen köstlich feierlichen Geschmack von Bratapfel und Tannenduft ganz erregt entgegenzitterte. Ich versuchte durchs Küchenfenster hineinzuspähen, doch das war angelaufen und ich konnte nur farbige Silhouetten erkennen.

Ich schüttelte den Schnee von meinem Mantel ab und stampfte mit riesengroßen Sprüngen den festgeklebten Schnee von Vaters Stiefeln ab. Dann öffnete ich die Tür zu unserem Hause und mir entgegnete ein Hauch von Fröhlichkeit, Wärme und von Bratapfelgeruch. Ich blieb wie angewurzelt im Türstock stehen. Sanfter Schneesturm drang in die warme Stube, an mir, vorbei. Mit einer Hand riss ich mir die Mütze vom Kopf, mit der anderen rieb ich mir die Augen wund. Denn ich träumte, meine Mutter würde wieder herzlich lachen und Marion lief glücklich durchs Zimmer. Ich träumte, im Kamin brenne ein Feuer und der Tisch sei mit Köstlichkeiten gedeckt. Die kalte Luft von draußen peitschte mir um die Ohren.
Glasige Kristalle stiegen in meinen Augen auf und ließen mein Bild langsam verschwimmen, denn ich träumte, dass neben Vaters alten Stiefeln an meinen Füßen, ein gleiches, neues Paar Stiefeln stand. 

Ausländerkind