eine deutsche Nachkriegsgeschichte
Es geschah vor vielen, vielen
Jahren, meine Lieben, als ich noch ein kleiner Junge war.
Da lebte ich mit meiner Mutter
und meiner kleinen Schwester Marion in einer Holzhütte, dicht neben der alten
Stadtmauer. Der Krieg war vorbei, doch Gott hatte uns noch nicht
wiedergefunden. Meine Mutter hatte keine Arbeit und mein Vater ist nicht mehr
aus dem Krieg heimgekehrt. „Ich bin bald wieder da! Pass gut auf Mama und
Marion auf.“ flüsterte er mir ins Ohr, damals, als sie kamen, um
alle Männer zu holen. Ich nickte widerwillig. Er küsste mich sanft auf die
Stirn und hielt mir seine Stiefel entgegen: „bis dahin, bist du der Mann im
Haus!“
Doch die Jahre vergingen und
kein Abend brachte uns unseren Vater wieder.
Als mein Vater noch bei uns war,
da war alles ganz anders. Wir gingen gemeinsam in den Wald um Feuerholz zu
sammeln, wir taten dies jeden Abend. Das war die Zeit, in der ich meinen Vater
für mich alleine hatte, es war eine wunderschöne Zeit. Er redete gerne, und
erzählte mir von den Wäldern, den Menschen und Tieren und von Gott.
Hätte ich mir jemals erträumen
lassen, dass er jemals von uns gehen muss, dann hätte ich seine Nähe mehr
genossen, dann hätte ich ihm nie widersprochen, ich hätte ihm alles recht
gemacht. Hätte ich jemals geahnt, dass er nie wiederkommt, hätte ich niemals
seine Stiefel angenommen. Doch es kam wie es kommen sollte, er war weg, und ich
wurde der Mann im Hause, denn ich trug ja seine Stiefel.
Ich spielte oft mit dem
Gedanken, die Stiefel einfach wegzuwerfen. Ich wollte nicht mehr der Mann im
Hau sein. Vielleicht würde Vater dann zurückkommen, weil ja jemand auf Mutter
und Marion aufpassen musste. Doch, das Risiko war zu groß, dass Gott meinen
Plan durchschaut und ich so meinen Vater nicht zurückbekommen würde. Außerdem
waren die Stiefel alles, was ich von Vater noch besaß. So ging ich also Abend
für Abend alleine in den Wald und kam erschöpft mit Feuerholz nach Hause. Für
die Schule war ich am nächsten Tag immer zu müde. Die Lehrerin zog mir die
Ohren lang, wenn ich im Unterricht einschlief und von den alten Geschichten
meines Vaters träumte, die, die mich so wahnsinnig nach ihm machten.
Manchmal stellte ich mir vor,
der Krieg hätte meinen Vater gar nicht verschlungen und dass er eines Tages,
glücklich lächelnd, einfach so, wieder in unserem Wohnzimmer steht und sich die
Hände am Kamin wärmt, als wäre er nie weg gewesen. Ich stellte mir vor, dass er
seine Stiefel einfach wieder selber trägt.
Meine arme Mutter klagte nicht.
Bestrafe mich Gott, würde ich die Unwahrheit sprechen, doch diese Frau hat nie
geklagt. Jede Nacht hörte ich sie weinen und sich in Sehnsucht nach meinem
Vater in Tränen ertränken, doch am nächsten Morgen, glich sie sich der Gestalt
einer starken Frau an. Ich bewunderte ihr Stärke und ihre Kraft und dennoch
brauchte sie meinen Schutz und meine Hilfe. Sie war eine bemerkenswerte Frau,
meine Mutter.
Jeden Abend, nach meiner
Rückkehr mit Feuerholz, erwartete mich sie mich mit einer Schüssel lauwarmen
Wasser und einem Stück wachsgelber Kernseife. Sei wusch mich, dann aßen wir
zusammen zu Abend, ein Stück Speck mit Kartoffeln, oder ein Laib Brot, wenn dem
Müller abends etwas übrigblieb. Manchmal sammelte Marion heruntergefallene
Esskastanien vom Bauernmarkt auf oder arbeitete für einen Liter Milch im Kuhstall,
bei der alten Berti mit.
Jeder Abend glich dem anderen,
jeder Abend brachte den selben Morgen, jeder Morgen brachte den selben Abend.
Doch kein Abend brachte uns unseren Vater zurück. Und jeder Morgen war einsamer
als der vergangene und nicht so einsam wie der, der noch kommen mag.
Doch eines Abends geschah etwas,
was keiner von uns jemals zu glauben vermochte.
Ich zog meine Mütze und den alten
Rock an, schnürte die viel zu großen Stiefel meines Vaters zu und wollte mich etwas
früher als gewohnt, auf dem Weg zum Holzsammeln machen.
Mutter hatte einige Äpfel von
Marions Lehrerin bekommen. Die bekam sie immer als Dank, wenn sie für Frau
Lehnchen etwas nähte. Dieses Mal war es eine Tischdecke, mit kleinen roten
Blüten darauf. Heute sollte es also Bratäpfel geben. Benebelt von der
köstlichen Vorstellung, nahm ich die alte Karre, die ich hinter der Hütte,
gegen die alte Stadtmauer angelehnt hat und klopfte den Schnee von ihr runter. Ich
zündete die alte Laterne an, und schlenderte los.
Es war eine besondere Nacht. Es
war Heilig Abend. Durch halbgeschlossene Fensterläden sah ich Kinder, Eltern
und Großeltern am Tische sitzen, ringsherum ein heller Schein der holden
Weihnachtskerzen. Ich zog vorbei, an den Häusern voller Freude und
Feierlichkeit. Väter die ihre Kinder laut jauchzend durch die Lüfte schwangen,
singende Menschen die glücklich von der Kirche hinausstürmten, ein kleiner
Junge der mir „fröhliche Weihnachten“ zurief. Ich sah lachende Mütter und
schaute kein einziges Mal zu unserer dunklen, traurigen Hütte zurück.
Keuchend schob ich den leeren
Karren vor mich hin und blies die kalte Wintersluft aus meinen Lungen hinaus,
als würde ich den Rauch einer billigen Zigarre ausatmen. Die Nacht war
bitterkalt und klirrende Kälte lies langsam alle Lebewesen zum Erbarmen
frieren. Der eisige Schnee knirschte unter den, mir viel zu großen väterlichen Stiefeln.
An meiner Mütze bildete sich langsam
ein kleiner Eiszapfen, ich brach ihn ab und lutschte voller Gier daran. Das
dämpfte zumindest meinen Hunger und der Gedanke an die heißen, saftigen
Bratäpfel verging allmählich.
Der Weg zum Wald war nicht weit,
doch in dieser Nacht schien er mir besonders lang. Ich folgte dem kleinen Pfad,
den mein Vater früher immer mit mir gegangen war. Ich hörte ihn schon sagen: „Tritt
immer schön in meinen Spuren, Junge. Dann fällt dir das waten durch den frischen
Schnee nicht so schwer!“ Nun war er nicht mehr da, und ich hatte keine einzige Spur
mehr, die mir den Weg erleichtern konnte. Ich blickte aber immer wieder gerne zu
meinen eigenen Fußspuren im Schnee zurück und stellte mir vor, mein Vater hätte
sie gemacht. „Vater, nicht so schnell, ich komm ja kaum noch nach“ flüsterte ich
unter Tränen, und ging alleine meines Weges weiter.
Oh, heilige Maria Mutter Gottes,
wie sehr mir mein Vater fehlte, wie sehr ich ihn mir doch ersehnte.
Die Karre wurde immer schwerer,
obwohl noch kein einziges Ästlein darin war. Ich entschloss zu rasten, blieb
stehen und zog den Wagen aus dem Weg. Erschöpft lehnte ich mich an ihn an und
brach mir einen zweiten Eiszapfen vom Mützenrand ab und gerade, als ich ihn in
den Mund stecken wollte, entdeckte ich sehr seltsame Spuren im Schnee.
Ich beugte mich nach vorne, ging
auf die Knie und blieb voller Erstaunen im Schnee hocken. Die nasse Kälte des
Schnees drang durch die Hose und schmerzte an meinen Beinen.
„Heilige Maria Mutter Gottes“,
dachte ich verwirrt und folgte neugierig den Spuren durch den Tiefschnee. Die
wichen von meinem Pfad ab und führten ins Innere des Waldes.
Ich stampfte durch den schweren
Schnee hindurch. Mir war kalt, dass Gott erbarm, aber ich konnte jetzt nicht
mehr umdrehen, denn ich wollte zu gern wissen, wem wohl diese wunderbaren
Abdrücke im Schnee gehörten. Ich hielt meine Laterne zitternd immer weiter in
die Höh, weil die Dunkelheit keinen Durchblick mehr erlaubte.
Ich wanderte durch den dichten
Tann, an verschneiten Tannenzweigen entlang und mein Blick wich keinen
Augenblick von den Spuren im Schnee.
Und ich muss ehrlich zugeben,
Gott möge mich bestrafen, würde ich die Unwahrheit sprechen, aber plötzlich
geschah es, dass alles rings um mich hell wurde und ich von dem Glanz und der
Pracht dieses Anblickes geblendet war. Meine Laterne ging aus. Ich blieb
erstarrt stehen
Heilig Maria, Mutter Gottes, ich
glaubte, ich träumte. Ich war mir gewiss, die Kälte würde ein übles Spiel mit
mir treiben, ich war mir gewiss ich träumte das alles gerade nur.
Aber die Kälte wich allmählich, der Eisdampf meines
Atems verschwand, die nasse Hose tat nicht mehr weh und die eisigen Füße in Vaters
Schuhe waren wohlig warm. Ein sanftes Licht erhellte die finstere Nacht.
Meine Seele war voller Wärme und
Freude, mein Herz voller Glück und Zufriedenheit. Meine Gedanken waren leer und
meine Worte waren stumm.
„Ist da jemand?“ flüsterte ich,
wild umherblickend, durch die stille Nacht. „Hallo?“ Doch kein Geräusch war
mehr zu hören. Die Welt hielt den Atem an.
„Vater“ dachte ich. „Vater,
wärst du doch hier.“ Ich hatte nie wieder, seitdem mein Vater in den Krieg
gezogen war, dieses Gefühl der Vollkommenheit und Freude empfunden und lächelte
dem Himmel, zwischen den hell erleuchteten Baumkronen, entgegen.
Da, mir erschrocken fiel ein,
dass ich kein Holz fürs Feuer gesammelt hatte, wo meine Mutter heute, am Heilig
Abend, die Bratäpfel für uns zubereiten wollte. Doch das schien mir egal zu
ein. Ich wollte nichts anderes, als sofort nach Hause zu kommen. Ich musste
meiner Mutter und Marion unbedingt von diesem wunderbaren Geschehen berichten.
Ich packte meinen Karren und die erloschene Laterne, rückte meine vereiste
Mütze zurecht und stampfte Richtung heimwärts durch den hohen Schnee, durch die
engen Bäume.
Ich war so glücklich und konnte
es nicht deuten.
Und da, ich war bereits an
meiner heimatlichen Hütte angelangt und wollte den Karren an die alte
Stadtmauer anlehnen, da nahm ich fröhliche Stimmen und einen köstlichen,
heißend dampfenden Bratapfelgeruch wahr. Verwirrt blieb ich stehen und
lauschte. Und tatsächlich, entnahm ich dies alles aus dem Inneren unserer armen
Hütte. Ich traute meinen Ohren kaum, noch traute ich meinen meiner Nase, die
diesen köstlich feierlichen Geschmack von Bratapfel und Tannenduft ganz erregt
entgegenzitterte. Ich versuchte durchs Küchenfenster hineinzuspähen, doch das
war angelaufen und ich konnte nur farbige Silhouetten erkennen.
Ich schüttelte den Schnee von
meinem Mantel ab und stampfte mit riesengroßen Sprüngen den festgeklebten
Schnee von Vaters Stiefeln ab. Dann öffnete ich die Tür zu unserem Hause und
mir entgegnete ein Hauch von Fröhlichkeit, Wärme und von Bratapfelgeruch. Ich blieb
wie angewurzelt im Türstock stehen. Sanfter Schneesturm drang in die warme Stube,
an mir, vorbei. Mit einer Hand riss ich mir die Mütze vom Kopf, mit der anderen
rieb ich mir die Augen wund. Denn ich träumte, meine Mutter würde wieder
herzlich lachen und Marion lief glücklich durchs Zimmer. Ich träumte, im Kamin
brenne ein Feuer und der Tisch sei mit Köstlichkeiten gedeckt. Die kalte Luft von
draußen peitschte mir um die Ohren.
Glasige Kristalle stiegen in
meinen Augen auf und ließen mein Bild langsam verschwimmen, denn ich träumte, dass neben Vaters
alten Stiefeln an meinen Füßen, ein gleiches, neues Paar Stiefeln stand.
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