Montag, 17. September 2018

Die Bernsteinschwestern

(Leseprobe)


„Lauft weiter, Olivia! Lauft!“
Mit ihren großen Körben voller Äpfeln lief die alte Gritt hinkend an Olivia vorbei und blickte erschrocken zurück. „Lauft weiter, bleib auf keinen Fall stehen, hörst du! Bleib auf keinen Fall stehen!“
„Ja!“ Schrie Olivia ohne aufzublicken, „Ich, ich laufe ja! Wir laufen!“
Doch da war die Alte schon längst abgebogen und hinter der Straßenbahn ganz verschwunden.
Olivia lief weiter geradeaus. An einer Hand zog sie Betty hinterher, an der anderen die kleine Lotte, die mit ihren kleinen Füßchen schon gar nicht mehr den Boden zu berühren schien. Olivia schnappte sich ihr Kleinstes im Fluge und schwang sie sich kraftvoll auf die Hüfte. Sie hoffte verzweifelt, so schneller voran kommen zu können. „Betty, mein Schatz, du musst schneller laufen!“ flehte sie keuchend ihre ältere Tochter an und zog sie noch schneller hinter sich her. Die Mütze war der Kleinen längst verrutscht und hin ihr tief ins Gesicht. Durch das holprige Laufen auf dem unebenen Kopfsteinpflaster zitterten ihre Wangen und die Tränen, die ihre Augen füllten, fielen wie tonnenschwere Granaten auf ihrem türkisfarbenem Mantel.
„Ich kann nicht mehr! Mama, ich kann nicht mehr!“ wisperte Betty stotternd vor sich hin und wischte sich mit ihrer Stoffpuppe über das Gesicht, während sie immer einen Schritt hinter ihrer Mutter lief, die sie rasend hinter sich herzog. Olivia fragte sich, seit wann Lotte nur so schwer geworden war. War sie doch vor eineinhalb Jahren noch gar nicht geboren. Mit jedem Schritt, den die drei gemeinsam durch die Straßen rannten, legte sich die schwere Last der Knochen wie ein Bleimantel über ihre Körper.
Es schien, als würden die Sterne aus dem Weltall hinunterfallen. Der Himmel teilte sich in Milliarden leuchtenden Kugeln, die hell leuchtend gegen die Erde schossen. Sie knallten mit lauten Zischgeräuschen in den Boden und hinterließen große, brennende Löcher.
Olivia und all die anderen Menschen in der Stadt liefen. Sie liefen um ihr Leben, wie kleine Schachfiguren geführt von einer riesigen Hand zwischen den von oben herabfallenden Feuerkugeln.
Olivia und ihre Mädchen wussten nicht wohin. Nur gerade aus, der Menschenmenge hinterher.
Ein Feuerball traf die Straßenbahn, die wie ein tosendes Feuerwerk in Feuer aufging. Ein Meer von Äpfeln wurde durch die Luft gewirbelt und fanden ihre Ruhe direkt vor Olivias Füßen. „Die Alte! Oh Gott, die alte Gritt!“ wimmerte Olivia mit weit aufgerissenen Augen. Tränen schossen ihr empor.  Erschrocken riss sie Betty ganz nah an sich ran und wendete mit ihren Töchtern. Sie bog in eine enge Seitenstraße ein, deren Dächer so nah beieinanderstanden, dass die Feuerbälle vom Himmel wenig Durchgang fanden. „Mama, wir müssen bei den Menschen bleiben, hat die Alte gesagt.“ Olivia liebt Bettys gerechte und oft belehrende Art und Weis, jedoch nicht an diesem Tag. Nicht heute. „Mama, wir laufen falsch!“ Schrie Betty ihre Mutter mahnend an und riss sich will von Mutters Hand weg.
Olivia blieb stehen und starrte Betty an. „Bückt euch!“ erschrocken vom lauten Knall eines herunterfallenden Balkens, drückte Olivia plötzlich ihre Kinder fest gegen eine Hausmauer, schutzsuchend unter einem breiten Dachvorsatz des halb abgebrannten Barbiershops. Schützend beugte sie sich über beide Mädchen und presste die Gesichter der Kinder fest an ihre Brust. Betend blickte sie nach oben, wie die Feuerbälle kreuz und quer über sie hinwegflogen. Sie hörte die verzweifelten Schreie der Menschen auf den Straßen. Ein brennender Mensch lief schreiend an ihnen vorbei, bis er sich in den Pfützen der nassen Stadt aufgegeben hatte. „Mami, ich habe Angst! Wann hört das auf?“ – „Gleich Schätzchen“ flüsterte Olivia leise weinend und stich Lotte sanft mit ihren Lippen über die Stirn. „Gleich!“




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