Mittwoch, 20. Juni 2018

Der fremde Mann und ich


oder: 
Der Tag, an dem ich anfing, mein Handy wegzulegen



„Noch einen Espresso bitte!“  Seine sanfte Stimme erinnert mich an jemanden aus der Vergangenheit. Sie erweckt augenblicklich ein schönes, vertrautes Gefühl in mir. Ich unterbreche das Tippen auf meinem Handy und blicke hoch.

Am Tisch vor mir sitzt ein älterer Herr, so um die sechzig, der mit der Kante seiner Handfläche die Tischdecke glatt streift. Ein Mal, zwei Mal und ein drittes Mal. Ganz langsam und konzentriert. Er beobachtet die Tischdecke und streicht ein viertes Mal zufrieden über die glatte Oberfläche. Er verschränkt seine Arme vor die Brust und lehnt sich langsam in seinem Stuhl zurück. Die langen Beine streckt er überkreuzt vor sich aus. Er trinkt jetzt von seinem Espresso und blickt nach lange danach in seine Tasse hinein, bevor er sie absetzt. 

In meiner Hand vibriert eine eingehende WhatsApp Nachricht gleich 5 Mal hintereinander. Fotos, meine Freundin schickt Fotos von ihrer Kreuzfahrt. Ich scrolle mich hastig durch die Fotos hindurch und kommentiere sie mit einer Aneinanderreihung von lachenden Emoticons und jenen mit Herzaugen. Darauffolgend ca. 12 Daumenhoch und zwei Schiffemoticons. Nach dem ich eine gefühlte Ewigkeit nach diesem Schiff gesucht habe, sende ich es ihr auch gleich zwei Mal.

„Danke sehr, das ging aber schnell!“ Erneut trifft mich diese ruhige Stimme mit einer unwahrscheinlichen Attraktivität darin, so sehr, dass sie mich vollends aus meiner digitalen Welt reißt. Ich blicke verstohlen zu dem Mann hinüber, der meine Aufmerksamkeit vereinnahmt. Unsere Blicke streifen sich und halten sich kurz fest. Er lächelt mich unverfänglich an.

Ich lächle automatisch zurück und lenke mich schnell wieder mit den neuesten Stories meiner Freunde auf Instagram ab. Lydia zeigt ihr neues Outfit in sieben unterschiedlichen Posen, Jon hat sich soeben beim Italiener eine gigantische Rucolapizza bestellt, die nicht auf seinem Teller passt und Ella und Mia winken vom höchsten Berg im Bayerischen Wald fröhlich in die Kamera.

Ich merke plötzlich mehr und mehr, wie sehr mich der Mann am Tisch vor mir ablenkt. Ich spüre seine Blicke, die mich zwar berühren, aber nicht stören. Was ist das? Wieso ist das so? Ich trau mich nicht mehr, zu ihm rüber zu schauen. Stattdessen blicke ich einfach mal nach links, am Doppeltisch neben mir. Hier sitzen fünf Mittdreißigerinnen, die sich sehr amüsiert über die Hochzeit von Paul und Michaela unterhalten und sich gegenseitig unterschiedlichste Videos von diesem Fest zusenden. Alle vier gucken, laut gackernd in ihre Handys, was sehr merkwürdig auf mich wirkt. Mit gesenkten Blicken auf ihren Smartphones lachen und quatschen sie angeregt in die Runde.

Wie ferngesteuert gucke ich erneut zum älteren Mann hinüber. Nur kurz gucken, ob er auch guckt, denke ich mir heimlich.  Er beobachtet aber gerade ebenfalls die vier Freundinnen. Ich nutze die Situation aus und starre ihn an. Ich kann nicht anderes. Er trägt ein dunkel grünes Polohemd und eine Bluejeans. Seine Haare sind gelockt und fallen sehr elegant in den Nacken. Auf dem Tisch liegen eine Sonnenbrille und ein Autoschlüssel. Er ist weder hübsch noch ist er unansehnlich und dennoch zieht er mich irgendwie magnetisch an.

„Passt alles bei Ihnen?“
„Ja, danke, alles gut!“ antworte ich der Bedienung hastig und vertiefe mich erneut in mein Handy. Auf Pinterest gibt es 50 neue Pins zum Thema „Backen ohne Zucker“ und…. Oh wie toll, Amazon hat meine, soeben bestelle Handyschutzhülle mit Indian-Sun-Design, bereits abgeschickt. Im Emaileingang liegen schon wieder 4 ungelesene Nachrichten und oh nein, meine ersten Rosen im Garten, die ich vor einigen Minuten auf Facebook gepostet habe, haben erst 2 Likes bekommen. Von einer alten Kindergartenfreundin, die alles liked und meiner Mama. Die, zugegebenen Maßen, auch alles von mir liked.
An einem der Tische spielt ein Kind mit seinem Dinosaurier um den dampfend heißen Kaffeebecher der Mutter herum. Er lässt den Dino fest am Tisch hüpfen und macht komische Bellgeräusche dazu. Ich glaube er sagt mit einer unwahrscheinlich hohen Frequenz immer: „Mama, Mama, Mama, Maaama, Maaaaaaaaama!“ Er nervt. Ich halte mein Handylautsprecher ganz nah an mein Ohr, um die Sprachnachricht auf WhatsApp von meiner Schwester besser verstehen zu können. Oh, der Lidl hat Dattelsirup im Angebot. Muss ich gleich mal zwei Flaschen online bestellen. Der Dinojunge bellt und der Tisch wackelt schon. Wieso sagt denn seine Mutter nicht endlich etwas? Ein einfaches „Ja!“ würde ja schon reichen. Er kreist immer wilder mit seinem orangen Vieh um den Kaffeebecker der Mutter. Diese lässt sich nicht ablenken und tippt weiterhin fleißig in ihr überdimensional großes Handy. Sie lächelt und scheint in einer komplett anderen Welt zu Hause zu sein. Klein Dinobübchen bellt weiterhin „Mamaaa“, hoppelt mit dem Tier ganz wild am Tisch herum, der Kaffeebecker kommt zu wackeln und kippt der Mutter, über das Handy, in den Schoß. Sie springt schreiend auf. Dinobello weint. Die Bedienung eilt mit Tüchern herbei. Irgendwie freut mich das jetzt. Es ist endlich Ruhe.

In mein Handy kommt ein neuer Facebook Post von Matthias Schweighöfer hereingeeilt. Ich tippe auf Play und gucke mir seine Shortstory an. „Liebe Grüße vom Meer. Der Wind weht mir die Frisi durcheinander!“ Ich lächle. Wie toll der doch ist. Ich like.
Wie von fremder Hand bewegt, erhebe ich meinen Blick zu diesem älteren Herrn. Oje, er guckt mich auch gerade an. Unsere Blicke kreuzen sich. Sie kreuzen sich nicht nur, sie verschlingen sich ineinander, miteinander, untereinander und dann wieder auseinander. Ich lächle so richtig dämlich weiterhin vor mich hin.

„Was ist denn so interessant in Ihrem Handy, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ Hat er soeben mit mir geredet? Hat diese wunderbare ruhige und fesselnde Stimme soeben mich etwas gefragt? „Ähm, so Zeug halt!“, höre ich mich gerade sagen, während ich eine total sinnlose und unkoordinierte Handbewegung durch die Luft mache. Zeug? Was sag ich da? Ich habe noch nie Zeug zu etwas gesagt. Warum gerade heute? Hoffentlich hat er es nicht gehört.

„Zeug?“ fragt er lächelnd. „Sie beschäftigen sich seit über vierzig Minuten mit Zeug im Handy?“ Er setzt sich interessiert aufrecht und hebt erwartungsvoll die Augenbrauen. Sein Blick mustert mich. Jetzt fällt mir auf, wie sympathisch er wirkt. Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Ja, womit habe ich mich denn die letzten wohl vierzig Minuten tatsächlich beschäftigt? Ok, ich habe einen Cappuccino und ein Wasser getrunken und eine Kugel Joghurt Eis gegessen, ohne Sahne und ohne Waffel. Und, was noch? Ich habe gescrollt. Jawohl, gescrollt. Ich habe die letzten fucking vierzig Minuten sinnlos durch mein Handy rauf – und runter gescrollt. Ich kann mich aber an nichts mehr erinnern. Ich habe gerade einen mega Lapsus. Oh Gott, wo ist mein Hirn?

Ich setze mich aufrecht und stütze meine Ellenbogen, in Erwartung auf meine eigene Antwort, auf die Tischplatte ab. Irgendetwas sagt mir gerade, dass ich gefangen bin. Gefangen im eigenen Netz der ausweglosen Irrfahrt durch eine selbst verursachte digitale Abhängigkeit. Und dieser tolle Mann spiegelt mir gerade mein Labyrinth. Wer hat ihn geschickt? Gott?

„Darf ich?“ er deutet auf den freien Platz neben mir und erhebt sich von seinem Stuhl. „Ähm, ja klar, bitte!“ Ich rutsche ein bisschen beiseite. So, ca. zwei Zentimeter.
„Am liebsten,“ sagt er „sitze ich einfach nur da und genieße meine Umgebung.“ Ich gucke ihn an und nicke flüsternd: „schön!“. „Ich rieche den Duft der Lindenbäume, die gerade blühen, ich trinke von meinem Kaffee und schmecke ihn und ich höre dem Wasser im Springbrunnen da hinten zu!“
Ich drehe mich schnell um. Ein Brunnen? Wo? Tatsächlich, da! Gleich rechts hinter mir, da steht ein Springbrunnen. Ein kleiner nackter Steinjunge pinkelt in einem See. Wer hat sich denn sowas ausgedacht? Kunst? Na gut, Kunst. Ok, tatsächlich ein Brunnen. Stand er die letzten 40 Minuten auch schon da? Ja? Nein? doch? 
Komisch, jetzt höre ich ihn auch.
„Wann haben sie eigentlich das letzte Mal so etwas getan?“, fragte er lächelnd. „Einen Springbrunnen hören?“ frage ich total dämlich. „Nein“ sagt er augenzwinkernd, „einem Springbrunnen zuzuhören!“

Beschämt senke ich den Blick. „Ich weiß es nicht mehr, … ich kann es wirklich nicht sagen!“

„Dann legen sie doch mal ihr Handy weg, wenn sie nicht auf Arbeit sind!“ sagt er und steht auf. „Vielleicht entdecken sie den ein oder anderen alten Zauber wieder!“ Verblüfft sehe ich ihn an und beobachte, wie er sich gemütlich vom Stuhl neben mir erhebt und ihn zur Seite schiebt.
„Ich wünsche ihnen noch einen wunderschönen Tag. Ihr Lächeln ist so großartig, zeigen sie es doch lieber der Welt da draußen und nicht nur ihrem Handydisplay!“ Ich bin verwirrt und suche nach einer passenden Antwort. Ich finde keine. Ich nicke nur verlegen und forme ein tonloses "Dankeschön!" mit meinen Lippen.

Mit einer respektvollen Abschiedsgeste geht er zu seinem Tisch, legt einen 20 Euroschein neben seine Espresso Tasse, winkt der Bedienung freundlich zu und schlendert langsam über die Terrasse des Cafés in den Park hinaus. Er zupft im Vorbeigehen eine tief hängende Lindenblüte und riecht daran. Ich blicke ihm noch lange nach. 

Zwei eingehende Nachrichten vibrieren im Sekundentakt in meiner Hand. Ich lege das Handy weg und verschränke meine Arme vor die Brust, lehne mich langsam in meinem Stuhl zurück und strecke meine Beine überkreuzt vor mich hin. 

Gedankenvoll höre ich dem Springbrunnen noch eine ganze Weile lächelnd zu. 

Text und Bild @ Monika C. Schmid 



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