Donnerstag, 3. August 2017

Das Kleid meiner Mutter


Langsam nahm ich den Kopfhörer von den Ohren und legte ihn mir vorsichtig um meinen Hals, um das plötzlich polternde Geräusch von Draußen besser hören zu können. Erschrocken hielt ich die Luft an und lauschte in die Ferne.
Erst krachte es, dem folgte ein Zischen. Danach wurde das Donnern immer lauter.
Ich setzte mich erschrocken auf und starrte das Fenster an, während Leya und Mina noch ruhig neben mir im Bett schliefen. Es donnerte erneut. Ich erschrak wieder. Es krachte plötzlich so laut, dass im Haus die Lampen klirrten und die Möbel von den Wänden sprangen.
Ich drehte erschrocken meinen Kopf zum Fenster, starrte in die Dunkelheit und sah, wie plötzlich immer mehr Sterne vom Himmel herab schossen und sich, beim Aufprall auf der Erde, in große Feuerbälle, auflösten.
Schreie! Immer mehr Schreie von draußen durchdrangen die nächtliche Stille. Sie wurden lauter und schriller. Die Schreie schienen immer näher zu kommen.
Plötzlich riss mein Vater im Schlafanzug die Türe des Kinderzimmers auf. Sein Gesicht war vor Entsetzen und Panik verzogen: „Bomben! Bomben! raus mit euch!“ Ich erkannte seine Stimme kaum mehr, so sehr hatte sie die Angst verzerrt.
Meine kleinen Schwestern, vom Lärm längst aus ihrem Schlaf gerissen, schrien erschrocken und klammerten sich ängstlich an mir: „Amira, Amira, was ist los?“ Ich wusste keine Antwort. Ich streichelte nur zärtlich über ihre Haare und sah Papa in die Augen. Sie waren weit aufgerissen und tränendurchtränkt. Seine Lider zitterten. „Amira, pack die Kleinen und raus hier!“
Noch bevor ich mich aus meinen Decken und Kissen befreien konnte, hörten wir, wie das Krachen erneut losging. Wie gelähmt und ohne einen Atemzug zu wagen, lauschten wir diesen zischenden Geräuschen, die direkt über uns flogen. Wir starrten stillschweigend an die Decke. Nur die Augen folgten dem Geräusch. Keiner bewegte sich.
Ein letzter Blick zu meinem Vater. Seine Augen starrten mich panisch an. Seine Lider zitterten. Meine Schwestern, vor Angst an mich geklammert, ihre kleinen Köpfchen in meinem Schoß versteckt.
Niemand wagte sich zu rühren.
Plötzlich gab es einen so lauten Knall, dass wir uns die Ohren zu hielten.
Das Haus fing an sich selbst zu zerschmettern.
Es fiel von oben und von unten und von allen Seiten in sich zusammen.
Staub, Bretter, Feuer, Steine, Teller, Möbel, Blut. Alles flog umher und verwischten sich in Farben und Tönen, die so laut und grell waren, dass ich meinte, mein Kopf würde bald platzen.
Nach einer Weile, es kann nicht lange gedauert haben, hörte das Haus auf, auseinander zu fliegen.
Ich fand mich laut schreiend wieder, irgendwo im Haus. Mein Mund war weit aufgerissen und meine Lungen pressten aus dem tiefsten Inneren immer neue Luft nach oben, die ich für meine Schreie benötigte. Doch, ich hörte das längst nicht mehr. Durch meine Ohren tönte nur ein lautes Pfeifen, das mir die Sinne durchbohrte. Ich hustete. Nachdem ich meine letzte verbleibende Luft aus den Lungen hinausgeschrien habe, füllten sie sich mit trockenem, stickigem Staub. Ich hustete erneut. Ich übergab mich.
Zwischen meinen Wimpern klebte nasser Staub, ich konnte nichts als verschwommene Bilder mehr sehen. Ich versuchte die Augen zu öffnen. Zwischen rotnassen Tränen spähte ich in den Raum. „Leya! Mina!“ ich flüsterte ihre Namen. Hustend versuchte ich erneut nach meinen Schwestern zu rufen, doch ich erhielt keine Antwort. „Papa! Papa! Papa?“ Ich musste erneut husten, würgen, mich übergeben. Saurer Kartoffelbrei verbreitete sich auf dem Kragen meines Nachthemds und lief in meine Kopfhörer, die ich mir um den Hals gelegt hatte.
Langsam begriff ich, was passiert war. Erschrocken sah ich mich um. Panisch drehte ich den Kopf in alle Richtungen und versuchte mich zu bewegen. Irgendetwas hielt mich fest. Es drückte mich zu Boden. Es tat so verdammt weh.
Über mir lag ein großes schweres Brett. Das musste die Türe gewesen sein. Der kupferfarbene Türgriff, mit den schönen Verzierungen darauf, bohrte sich in meinem Bauch. Ich ertastete ihn sanft. Er steckte links, unter meinen Rippen, fest. Meine Finger zitterten an der nassen, warmen Stelle an meinem Bauch und versuchten, den Griff mit samt der Türe wieder hochzudrücken. „Ich werde verbluten, wenn er raus ist!“ schoss es mir plötzlich durch den Kopf.
Neben meinem rechten Ohr züngelte ein Feuer. Ein großer Dachbalken, der sich gut zwei Meter hoch über mir zwischen Wand und anderem Schutt gespreizt hatte, schien seine Kräfte zu verlieren und fing an, nach unten zu rutschen. „Ich muss hier raus!“ feuerte ich mich an „ich muss hier raus, ich muss hier raus!“ wiederholte ich immer wieder. Ich packte erneut mit voller Kraft den Türgriff und schob gleichzeitig mein Becken in die Höhe. Die Türe bewegte sich. Ich bäumte mich auf und die Türe über mir fiel, mit einem lauten, staubenden Krach, zur Seite. Mein Körper schmerzte. Ich schrie laut auf. Das warme Blut durchtränkte mein Nachthemd. Ich bohrte meine ganze Hand in die offene Wunde hinein und kroch unter Möbeln und stieg über Bretter und Steinen und irrte schreiend umher. Ich konnte mich nicht mehr im Raum orientieren und gelang an einem Abgrund. Das Hochhaus hatte sich zweigeteilt. Ich sah in die Tiefe. Mama? Mama! Da unten lag Mamas haselnussbraunes Kleid. Und darüber der Kamin. Mein Bauch schmerzte. Ich hustete blutigen Staub. Ich übergab mich erneut. Das Pfeifen und Rauschen in den Ohren wurde immer leiser und schien ganz fern zu sein. Feuerzungen peitschten nach mir. Mein Nachthemd fing Feuer. Durch die verklebten Wimpern sah ich nur noch Mamas Kleid. Ich wandte mein Blick nicht mehr von ihr ab. Im nächsten Atemzug wurde alles schwarz.
„Hey, aufwachen! Amiiiiraaa!“ Ich öffnete meine müden Augen und sah meiner Deutschlehrerin direkt ins Gesicht. Sie hatte sich so weit nach unten zu mir gebeugt, dass ich ihren Pfefferminzatem spüren konnte. „Hey Mädchen, geschlafen wird zu Hause!“ sagte sie lächelnd und strich mir aufmunternd über mein Kopftuch. Ich stöhnte lächelnd auf und nahm meinen Bleistift zwischen meine vernarbten Finger und schrieb von der Tafel ab: „ich lache, du lachst, er sie es lachen, wir lachen.“
Nach der Stunde bat mich Frau Beer zu sich. Sie meinte, ihr sei aufgefallen, dass ich nicht bei der Sache bin und ständig schlafe. Ob etwas mit mir sei, fragte sie besorgt. Ich würde mich nicht ins Klassenklima fügen und … Ich antwortete ihr, dass ich meine Tage hätte und dass ich nicht viel gegessen hätte und sowieso, sei es mir heute viel zu heiß. Frau Beer schien mit der Antwort zufrieden und schickte mich in die Pause.
Noch bevor ich in mein Butterbrot beißen konnte, ereilte mich eine dringende Whatsapp von Papa: „du musst kommen, sofort. Habe Termin Arbeitsamt. Dollmetschen“. Oh nein, das hatte ich ganz vergessen.
Ich täuschte Frau Beer einen plötzlichen Kopfschmerzanfall vor und nahm den Bus nach Hause, um Papa abzuholen und ihn zum Arbeitsamt zu fahren. „Wieso kommst du so spät?“ flüsterte er genervt, während er mit einer seiner Krücken vergeblich nach seinem Schuh angelte. „Hab ich Termin, weißt du Kind!“ Ich bückte mich lächelnd und half Papa seinen linken Schuh anzuziehen, den rechten brauchte er, seit der Nacht, in der die Sterne vom Himmel fielen, nicht mehr!“
Er lächelte mich dankend an, ich nickte achtungsvoll zurück.
Nach dem Besuch beim Arbeitsamt musste ich mit Papa noch zu seinem Arzt, weil er nicht mehr schlafen kann und täglich starke Kopfschmerzen hat. Der Arzt sagte, er hätte posttraumatische Belastungsstörungen und seine Seele sei krank geworden und dass er ihn morgen noch mal sehen möchte.
An diesem Tag gingen wir noch Essen einkaufen und ich kochte für mich und meinem Vater. Danach wusch ich unsere Wäsche, machte den Haushalt und holte die Medikamente für Papa aus der Apotheke. Nachdem ich seinen vernarbten Beinstumpf neu verbunden hatte, räumte ich den Tisch frei und lernte mit Papa deutsch. „Gutes Mädchen“ sagte er verschämt und küsste meine Stirn. „Dank Allah, ich dich noch habe“. Wir tranken Tee. Papa schluckte seine Tränen hinunter, meine fielen tonnenschwer ins Deutschheft, direkt auf den Akkusativ.
Mein Vater war längst ins Bett gegangen, doch ich hielt mich noch lange mit dem Akkusativ und dem Dativ am Küchentisch auf. Es war kurz vor Mitternacht und ich stieg müde in mein Bett.
Ich setzte mir meine Kopfhörer auf, damit ich die Stimmen in meinem Kopf nicht mehr hören muss und blickte traurig nach links und nach rechts. Mein Bett war leer und noch leerer, mein Herz. Da draußen vor dem Fenster ruhte der Mond in Frieden.
"Gute Nacht Mama, gute Nacht Leya und Mina, Allah beschütze euch", flüsterte ich, küsste einen haselnussbraunen Stofffetzen, den ich von unter meinem Kissen hervor zog und kuschelte mich an ihn. Irgendwann schlief ich musikhörend,ein.
Doch plötzlich erschrak ich und fuhr in die Höhe. Ein lauter Knall dröhnte durch meinen Körper.
Ich legte den Kopfhörer um meinem Hals, um das plötzlich polternde Geräusch von Draußen besser hören zu können. Erst krachte es, dem folgte ein Zischen. Danach wurde das Donnern immer lauter.
Ich setzte mich erschrocken auf und starrte das Fenster an, während Leya und Mina noch ruhig neben mir im Bett schliefen. Es donnerte erneut. Ich erschrak wieder. Es donnerte und krachte plötzlich so laut, dass im Haus die Lampen klirrten und die Möbel von den Wänden sprangen.
Sterne fielen vom Himmel und lösten sich in große Feuerbälle auf.
Schreie! Immer mehr Schreie!
Plötzlich riss mein Vater im Schlafanzug unsere Zimmertüre auf. „Bomben! Bomben! raus mit euch!“
Meine kleinen Schwestern klammerten sich ängstlich an mir: „Amira, Amira, was ist los?“ Ich wusste keine Antwort.
Ein letzter Blick zu meinem Vater. Seine Augen starrten mich an. Seine Lider zitterten. Meine Schwestern, vor Angst an mich geklammert, ihre kleinen Köpfchen in meinem Schoß versteckt, begraben, für immer.
Und dann, sah ich erneut in den Abgrund und sah Mamas Kleid. Und darauf der Kamin.
„Amira, es gibt Regeln, an die auch du dich halten musst!“ sagte Frau Beer, während sie Frau Niebling, die Sozialarbeiterin der Schule, Zustimmung suchend ansah. „Regeln?“ ich wusste nicht genau, was sie damit meinte. „Ja, meine Liebe. Schlafen im Unterricht ist ein Regelverstoß. Außerdem hast du viel zu viele Fehlzeiten. Du kannst doch nicht ständig vom Unterricht fehlen. Du verpasst einfach zu viel Stoff. Ich will doch einfach nur,…“ Frau Niebling, die dem Monolog von Frau Beer aufmerksam zuhörte, sah mich lange an und streckte die Hand nach mir aus. Ich gab sie ihr einfach. Sie rückte dann etwas näher und fragte: „und diese Träume, Amira, kommen sie jede Nacht?“
Frau Beer wurde kurz still, setzte dann erneut an, um ihren Satz zu vollenden, doch meine Hand in Frau Nieblings Hand schien sie zu verwirren. Sie beendete ihren Satz im Flüsterton, doch ich weiß nicht, wovon sie sprach. „Ja, jede Nacht“ zitterte es aus mir heraus. „Magst du mir mal davon erzählen?“ Frau Nieblings Augen waren interessiert und ehrlich und sie zwinkerte mir zu, als sie „bei einer guten Tasse Tee“ hinzufügte.
"Ich mag Tee", flüsterte ich fast lautlos und entdeckte in ihren Augen das selbe wunderbare Haselnussbraun, wie das vom Kleid meiner Mutter.
nach eine wahren Begebenheit....

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Ausländerkind