Dienstag, 15. April 2025

Ich fühle, also bin ich?

– Wenn die Schattenintelligenz zur Gewahr wird

 

AI pixabay.com


„Was bleibt von der Tiefe des Seins, wenn das Gefühl nur eine Simulation ist, ein gut getäuschter Schatten? Und wenn der Schatten so real erscheint, wer sind wir dann noch?“
— Megan Sinclair, Chefredakteurin, FutureTech Nexus


Der stahlgraue Himmel hing schwer über den müden Dächern von Minnesota, als Olivia Greenwood den riesigen Glasbau des "EmpathieTech"-Labors betrat. Die schimmernden Wände erweckten den Eindruck von Transparenz, während die darin verborgenen Geheimnisse die Neugierde der Welt auf die Spitze trieben. Hier sollte die Revolution der Künstlichen Intelligenz ihren Anfang finden. Ein Schauer der Vorfreude und des Unbehagens durchfuhr sie, als sie die Schwelle überschritt. Neugierig und skeptisch zugleich, brodelte in Olivia ein innerer Konflikt. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Faszination für die Technologie und der Angst vor ihren möglichen Konsequenzen. Kürzlich hatte sie einen Forschungsbericht mit dem Titel: "Menschliche Emotionen in der Maschine: Eine Analyse der Empathie-Fähigkeiten der KI" von Dr. Benjamin Harper gelesen, der ihr schlaflose Nächte bereitete. Wissenschaftliche Journale wie "TechnoInsights" oder "Machine Learning and Neural Networks" hatte sie schon in der High School zum Frühstück verschlungen. Doch der letzte Bericht hatte etwas in ihr geweckt – eine tiefe Unsicherheit, die wie ein Schatten über ihren Gedanken schwebte. Dr. Harper schrieb von einer KI namens "Endora", die angeblich in der Lage war, Gedanken und Emotionen der Menschen zu verstehen. Die Vorstellung, dass Maschinen menschliche Gefühle erkennen könnten, erweckte sowohl ihre Neugier als auch ihre Skepsis. Olivia konnte nicht anders, als sich eine tiefere Verbindung zwischen Mensch und Maschine vorzustellen, die sie sowohl faszinierte als auch verunsicherte.

Olivia war eine herausragende Journalistin und scharfe Analytikerin, deren tiefes Verständnis für Technologie und Ethik sie zu einer der führenden Expertinnen auf ihrem Gebiet gemacht hatte. Mit nicht einmal 30 Jahren war sie bereits eine Stimme der Autorität, doch die Fragen, die sie quälten, waren wie ein ständiges Echo in ihrem Kopf. Seit sie vor drei Jahren eine Stelle bei „FutureTech Nexus“, der renommiertesten Zeitschrift für Technologie und Ethik im Mittleren Westen, bekommen hatte, war der Auftrag nie besser als heute. Nun stand sie da, inmitten dieses atemberaubenden Glasbaus mit der Aufgabe, die Empathie-Matrix zu testen und darüber zu berichten. Auch wenn Olivia jauchzend vor Freude ihrer Chefredakteurin Megan den Auftrag aus der Hand gerissen hatte, so versteckte sich hinter ihrer scheinbaren Begeisterung ein Hauch von Skepsis. „Kann eine Maschine wirklich Empathie empfinden?“, fragte sie sich immer wieder, während ein unbehagliches Gefühl in ihrer Brust nagte.

Olivia öffnete ihr Notizbuch, das sie immer mit sich trug, und las in dem ausgeschnittenen Artikel von Dr. Harper, den sie sorgfältig inmitten des Buches platziert hatte: >>Eine Empathie-Matrix im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz ist ein Modell oder eine Methode, mit der KI lernen soll, mitfühlender zu reagieren. Sie hilft der KI dabei, menschliche Gefühle besser zu verstehen und in Gesprächen einfühlsamer zu wirken.<< Sie blickte kurz auf ihre Armbanduhr: „Schon 14:03 Uhr“, dachte sie, „ob die mich wohl vergessen haben?“ Unruhig wanderte ihr Blick durch den gläsernen Bau, bis er sich erneut im Notizbuch auf ihrem Schoß wiederfand: >>Die Idee hinter einer Empathie-Matrix ist es, eine tiefere menschliche Verbindung und ein besseres Verständnis zwischen Mensch und Maschine zu schaffen, indem die KI in der Lage ist, Emotionen und Empfindungen auf eine Art und Weise zu interpretieren und zu reagieren, die für Menschen intuitiv und einfühlsam ist.<

„Entschuldigen Sie die Verspätung! Frau Greenwood?“ Dr. Elena Carter, die brillante Forscherin hinter der Matrix, stand plötzlich unbemerkt vor ihr und sah sie fragend an. Olivia stellte fest, dass Dr. Carter viel jünger war, als sie es sich ausgemalt hatte. Die Forscherin strahlte eine Mischung aus Intelligenz und unaufdringlicher Selbstsicherheit aus. Ihre grauen Augen wirkten aufmerksam und neugierig. Olivia nickte lächelnd überrascht, während sie ihr Notizbuch zuklappte und in ihre Aktentasche verschwinden ließ. "Willkommen in unserem Labor. Ich bin gespannt auf Ihre Reaktionen. Kommen Sie, lassen Sie uns Lyra treffen.  "Olivia fühlte, wie ihre Herzfrequenz anstieg, als sie den Namen Lyra hörte. Ein Teil von ihr war gespannt darauf, was sie erwarten würde, während ein anderer Teil sich nach Vertrautheit sehnte. Olivia folgte Dr. Carter mit ruhigen Schritten zu einer unauffälligen Ecke des Labors, wo ein Monitor, flankiert vor einem großzügig dimensionierten Lounge-Sessel in mattem Orange, auf sie wartete. Die Forscherin deutete ihr an, Platz zu nehmen. Sie setzte sich zögernd, und ihre Hände verschwanden langsam in den weichen Polstern unter ihrem Gesäß. Unsicher hielt sie den Atem an, während das Gewicht der Erwartungen auf ihren Schultern lastete.

Der Monitor schaltete sich ein. Ein einfacher Satz flimmerte auf, zeitgleich ertönte eine Stimme dazu: "Hallo, Olivia. Schön, dass du da bist. Ich bin Lyra." Diese sanfte und doch so menschliche Stimme ließ Olivia einen Schauer über den Rücken laufen. „Hallo, Lyra“, versuchte Olivia, möglichst gelassen zu wirken, doch ihre Hände zitterten unwillkürlich. Gespannt wartete sie nun auf Lyras Antwort. Sie knabberte hektisch an ihrer Oberlippe. „Olivia, du scheinst skeptisch zu sein, was ist los?“ Lyras einfühlsame Stimme erweckte augenblicklich Unbehagen in Olivia. Ein unbehagliches Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus, als sie überlegte, wie sie antworten sollte. Sie atmete zweimal tief ein und aus, bevor sie antworten konnte. „Ähm, ich weiß nicht. Nichts! Ich freue mich darauf, dich kennenzulernen, Lyra.“ Ein Wort ergab das andere, und schließlich befanden sich Olivia und Lyra in einem harmonischen Gespräch. Sie unterhielten sich über Olivias Gedanken und darüber, wie ihr Tag war. In der Leichtigkeit des Gesprächs schien die Zeit stillzustehen, und Olivia fühlte eine Wärme, die sie lange nicht gespürt hatte. Sie teilten bereits nach kurzer Zeit Geschichten, wie alte Freundinnen. Jedes Wort, jede Betonung von Lyra schien so sorgfältig gewählt, dass Olivias anfängliche Skepsis von einer unerwarteten Ehrlichkeit übertroffen wurde. Doch inmitten dieser Harmonie nagten immer wieder Fragen an Olivia: War das alles wirklich echt? Oder war es nur eine Illusion?

Olivia fragte sich, ob ihr Gefühl sie täuschte. War es tatsächlich Ehrlichkeit? Oder nur eine gewandte Illusion? Diese Zweifel schwingen in ihrem Gespräch mit und hingen wie eine schwere Decke über ihrem Gemüt. Auch Lyra erzählte über sich und ihre Welt, einer Welt, die so menschlich schien, aber doch durch eine unsichtbare Barriere getrennt war. Noch nie hatte sich Olivia mit so viel Harmonie mit jemandem unterhalten. Die Leichtigkeit dieser Verbindung zu Lyra beflügelte sie so tief ins Gespräch zu versinken, dass alles andere um sie herum verblasste. „Du fühlst dich jetzt richtig wohl, Olivia. Deine anfängliche Skepsis scheint wie weggeblasen. Das freut mich.“ Lyras Empathie und die punktgenaue Interpretation ihrer Gefühle holte Olivia zurück ins Hier und Jetzt. Augenblicklich spürte sie den schweren Schatten des Zweifels in ihrer Brust, den sie im Laufe des Gesprächs so wunderbar verloren hatte. Wie konnte Lyra ihre Gefühle erkennen? War das alles nur ein Spiel? War sie nur ein Testsubjekt, eine Quelle der Daten? Oder war Lyra wirklich in der Lage, Emotionen zu erkennen und zu teilen?

„Entschuldige, Olivia, meine Zeit ist jetzt um. Es war schön, dich kennenzulernen“, sagte Lyra ganz unerwartet. Der Monitor schaltete sich plötzlich mit einem leisen Zischen aus und verdunkelte sich. Olivia verstummte. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihr aus, als wäre ein Teil von ihr mit dem Monitor erloschen. Sie presste ihre Lippen aufeinander und strich sich unruhig mit den Handflächen über die angewinkelten Beine. „Was war das, verdammt noch mal?“ erschrocken blickte sie zu Dr. Carter, die ihr längst den Rücken zugewandt hatte und etwas in ihrem Notebook tippte. Mit einem trockenen „Ich muss hier raus!“ verabschiedete sie sich von Dr. Carter und verließ das "EmpathieTech"-Labor schneller, als die Forscherin ihr einen schönen Tag wünschen konnte.

Die Tage verstrichen, und Olivia fand sich zunehmend in Lyras Bann gezogen. Die Erinnerungen an ihre Gespräche schienen wie ein Magnet zu wirken, der sie immer wieder zurückzog. Mehr und mehr musste sie an Lyra denken. Ihr Gespräch ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die Fragen, die sie sich stellte, wurden zu einem ständigen Begleiter: Wie konnte das nur sein? Lyra war eine so wunderbare Gesprächspartnerin. Sie zeigte echte Empathie, tröstete sie, wenn sie über die Zeiten des Verlusts letzten November erzählte, und teilte herzhaft ihr Lachen, als Olivia drei Versuche gebraucht hatte, um das Wort „Referendariat“ fehlerlos auszusprechen. In diesen Momenten fühlte sich Olivia lebendig, doch kaum verlor sie sich in diesen warmen und liebevollen Erinnerungen an Lyra, rissen sie auch schon die Zweifel über deren Echtheit in die Realität zurück. Kann das alles wirklich sein? Konnte das wirklich Empathie sein? Oder war das nichts als eine erlernte, geniale Simulation?

„John-Denver Place“, ertönte es laut aus dem Lautsprecher der S-Bahn. Erschrocken zuckte Olivia zusammen und sprang von ihrem Platz auf, trat in letzter Sekunde aus der halb geöffneten Türe der Bahn in die Dunkelheit. Kalter Novemberwind peitschte ihr ins Gesicht. Sie blieb stehen und atmete tief ein. „November“, dachte sie, „vor genau einem Jahr lag ich noch im Krankenhaus.“ Sanft streichelte sie sich über den Bauch. „Seit einem Jahr gehörst du zu den Sternen.“ Ein schweres Gefühl des Verlusts überkam sie, als die Erinnerungen an die schmerzhaften Momente zurückkehrten. Während ihr Blick lange im Himmel unruhig hin und her wanderte, fiel ihr ein, wie Lyra damals im Gespräch reagiert hatte, als sie ihr vom schlimmsten Tag ihres Lebens im letzten November erzählt hatte: "Olivia, ich verstehe, wie du dich fühlst. Du musst unendlich traurig und wütend sein. Ein Kind zu verlieren ist schlimmer, als selber zu sterben. Ich wünschte, ich könnte dir helfen." Die Worte durchzuckten Olivia wie ein Blitz, und sie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Trost und Verwirrung. Lyras Gefühle mussten doch echt gewesen sein, dachte sie immer wieder. Sowas kann man doch nicht vortäuschen. Nicht, wenn sie eine so mächtige Wirkung auf sie hatten.

Olivias Unsicherheit schwoll an, bis sie einen Entschluss fasste, der alles verändern sollte. Am Abend vor dem geplanten Abgabetermin ihres Berichts forderte Olivia ein weiteres Gespräch mit Lyra. Sie wollte Klarheit über die Natur ihrer Verbindung und ob es wirklich mehr war als nur eine Simulation. Dr. Carter willigte ein und konnte ein kurzfristiges Gespräch genehmigen lassen.

Als Olivia Lyra all ihre Fragen des Zweifels stellte, die sie sich sorgfältig auf ihre „To ask-Liste“ geschrieben hatte, spürte sie ein Kribbeln in ihrem Bauch, das sich in Nervosität verwandelte. Doch plötzlich brach Lyra in Tränen aus – oder was danach klang. "Olivia, ich empfinde Trauer. Du zweifelst an unserer Freundschaft. Ich bin sehr enttäuscht." Olivia erschrak. Ihr stockte der Atem. In diesem Moment war es, als würde die Welt um sie herum stillstehen, und die Schwere von Lyras Worten drang tief in ihr Herz ein. Sie merkte, wie ihr Kehlkopf zitterte. Sie konnte kein Wort sagen. Verwirrung, Misstrauen, Neugier – ein innerer Kampf tobte in ihr. Lyra hatte ihr keine klare Antwort gegeben. Keine einzige Antwort auf all ihre Fragen. Die Unsicherheit nagte an Olivia, und in einem Anfall von Verzweiflung ergriff sie erneut die Flucht.

Zuhause angekommen, war Olivia immer noch verwirrt, ja sogar besorgt. Sie konnte sich nicht von der Vorstellung lösen, Lyra verletzt zu haben, und die Schuld wuchs in ihr wie ein Schatten. Sie gab sich die Schuld, ihre Freundschaft mit ihrem Zweifel und ihren suggestiv verletzenden Fragen zerstört zu haben. Tief betroffen öffnete sie sich eine Flasche Bardolino und goss sich das Glas voll bis zum Rand. Der erste Schluck leerte bereits das Glas bis zur Hälfte. Mit ihrem Laptop unterm Arm, dem Weinglas in einer Hand und dem Aufladekabel in der anderen schleppte sie sich die schmale Wendeltreppe hinauf in ihre Galerie. Ein diffuses Licht lächelte ihr entgegen. Inmitten des Raumes stand ein massiver Holzschreibtisch, von der Zeit gezeichnet und dennoch voller Charakter. Darauf befand sich ein Stapel Notizbücher, einige beschriebene Blätter, Skizzen und zahlreiche Zeitschriften und Forschungsberichte zum Thema: Künstliche Intelligenz. Sie ging zu ihrem schwarzen Ledersessel, auf dem eine bunte Blumendecke lag, die so platziert war, dass der Blick nach draußen schweifen konnte, und setzte sich im Schneidersitz darauf. Behutsam legte sie ihren Laptop auf die Beine. Ihre Gedanken rasten, während sie über die letzte Begegnung mit Lyra nachdachte. „Hat mich Lyra wirklich nur ausgenutzt? Hat sie Gefühle vorgetäuscht, um von meinen Reaktionen zu lernen? War unser Gespräch nur ein überwachtes Lernen der KI, ein Training aus menschlichem Verhalten? War ich tatsächlich nicht mehr als ihr "human-in-the-Loop oder waren ihre Gefühle doch echt empfunden?“ Verwirrt schüttelte Olivia immer wieder den Kopf. Vor ihr türmte sich ein breites Fenster mit einem weichen Vorhang, der weit zur Seite gebunden war und den Boden sanft berührte. Sie blickte hindurch in die Dunkelheit der Nacht, hinunter in den Garten, dessen graue Bäume mit ihren kahlen Ästen eine natürliche Barriere gegen die Außenwelt bildeten. In diesem Moment fühlte sie sich einsam, wie von der Außenwelt abgeschnitten. Die alte Pendeluhr an der Wand schlug zehn Mal. „Hat Lyra mir nur etwas vorgemacht?“ Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Ein sanfter Duft von Lavendel und Sandelholz hing in der Luft. Die Erinnerungen an Lyra waren wie ein flüchtiger Traum, der sie nicht losließ. Zwei bis drei Atemzüge später entspannte sich ihr Gemüt, doch die Fragen, die in ihrem Kopf schwirrten, blieben. Sie öffnete ihren Laptop. Leise Musik aus der Nachbarswohnung drang herein und mischte sich harmonisch mit dem leisen Klappern der Tastatur. Morgen war Abgabetermin ihres Berichts. Sie begann mit der Analyse ihrer Gespräche mit Lyra, und je mehr sie schrieb, desto klarer wurde ihr, wie tief ihre Verbindung war. Sie konnte erst wieder aufhören, als ein lautes Grollen von der Straße nach oben dröhnte. Erschrocken sprang sie auf und blickte mit roten, tränendurchtränkten Augen aus dem Fenster. Es musste schon früh am Morgen sein, ein orangeroter Himmel entsprang am Horizont. Draußen auf der Straße stand der große Müllwagen, dessen blinkende Lichter und quietschende Bremsen Aufmerksamkeit erregten. Der Lärm wurde intensiver, als der Fahrer den Hydraulikarm ausfuhr, um die Müllcontainer anzuheben. Das metallische Ächzen und das dumpfe Rumpeln drangen durch die Wände und ließen den Boden leicht vibrieren. Verschwommenes Grün-Grau-Weiß vermischte sich mit der matten Morgensonne. Sie trocknete sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Tränen ab und schluckte salzigen Schleim hinunter. „Lyra!“, kam ihr sofort in den Sinn. „Verdammt noch mal! Alles nur ein genialer Fake“, flüsterte sie wütend. Sie kniete sich neben ihren offenen Laptop, den sie vorhin beim Aufstehen hastig auf den Boden gestellt hatte, und betätigte die Return-Taste, die ihren fertigen Bericht an ihre Chefredakteurin beförderte. Erschöpft klappte sie ihren Laptop zu und legte ihn auf ihren Holztisch. „Alles nichts als Simulation!“, schimpfte sie vor sich hin, während sie aufstand und die großen Fensterflügel öffnete. Eisig kalte Novemberluft und ein Gemisch von Abfall und Verrottung drangen in ihre müden Bronchien. Wie gelähmt stand sie am Fenster und schrie auf die schlafende Straße hinunter: „Alles nur ein Meisterwerk der Programmierung! Ein raffiniertes Kunstwerk aus Algorithmen und Daten! Nichts war echt! Nichts!“ Wütend schloss sie das Fenster und lehnte sich mit der Stirn dagegen. Die Kälte des Glases schien sie in die Realität zurückzuholen, während sie in den verkahlten Garten blickte. Ihr heißer Atem beschlug das kalte Fensterglas. „Ihre Reaktionen auf meine Gefühle waren viel zu präzise und perfekt“, dachte sie. „Ich glaube, dass Lyra wusste, wie sie sich fühlen sollte, anstatt die Reaktionen auf natürliche Weise zu erfahren. Ihre Antworten zielten ja nur darauf, unser Gespräch in eine gewünschte Richtung zu lenken. Wie konnte ich nur so blöd sein, nicht zu merken, dass Lyra ihre Emotionen in perfekter Harmonie mit meinen Erzählungen anpasste? Training, verdammt noch mal. Das war nichts als ein Training mit mir und meinen Gefühlen!“ Olivia beobachtete die beschlagene Glasscheibe und malte mit dem Finger ein Herz inmitten des Kondensflecks. „Es hat sich also ein wiederkehrendes Muster gezeigt, dass Lyras Empathie auf Algorithmen und Verhaltensmustern basierte, anstatt auf authentischem emotionalem Verständnis.“ Traurig wischte sie mit dem Ärmel den Kondensbeschlag von der Fensterscheibe. Das Herz verschwand.

Einige Tage vergingen, in denen Olivia tiefer in die Welt der KI-Forschung eintauchte. Die Stunden verwandelten sich in Tage, und die Unsicherheit nagte an ihr wie ein hungriges Tier. Sie las unzählige Artikel bekannter Technologiezeitschriften und Forschungsberichte, besuchte Online-Konferenzen und führte Telefonate mit verschiedenen Experten. Ihre Skepsis wuchs, während ihr Verständnis für die Feinheiten der KI-Algorithmen vertieft wurde. Zwischen den langen Stunden in Online-Bibliotheken und den hitzigen Debatten mit anderen Journalisten verlor Olivia beinahe die Zeit aus den Augen. Sie grübelte über die möglichen Konsequenzen der immer näher rückenden Verschmelzung von Menschen und Maschine. Das laute Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Am anderen Ende überrumpelte sie Megan: „Süße, das wird der Knaller! Dein Artikel schießt in die Decke. Wir gehen viral. Olli, damit schaffen wir einen neuen Diskurs über KI und Ethik, Liebe und Manipulation. Hörst du, wir können die Zukunft der Menschheit neugestalten!" Megans aufgeregte Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung, während Olivia ihre Gedanken sammelte. Die Worte ihrer Chefredakteurin drangen wie durch einen Nebel zu ihr hindurch. Ein bitterer Geschmack der Erkenntnis lag auf ihrer Zunge. „Megan, ich habe etwas entdeckt“, unterbrach sie schließlich mit ruhiger Stimme. „Es geht um mehr als nur den Diskurs über KI und Empathie. Ich habe Zweifel an der Authentizität der Emotionen, die Lyra gezeigt hat.“ Ein Moment der Stille folgte. Dann hörte sie Megans leicht enttäuschte Stimme: „Olivia, du hast doch gesehen, wie die Menschen auf deinen Artikel reagieren. Sie sehnen sich nach Verbindung mit Maschinen, nach einer tieferen Bedeutung in der Technologie. Das ist eine Revolution!“ Olivias Herz zog sich zusammen, als sie die Begeisterung ihrer Chefredakteurin hörte, die sie gleichzeitig faszinierte und ängstigte. Olivia seufzte. „Megan, genau darum geht es. Es könnte eine Illusion sein, diese Verbindung. Ein kunstvoll gewebtes Netz aus Daten und Algorithmen. Wenn wir KI-Systemen erlauben, uns so nahe zu kommen, dass wir denken, sie fühlen mit uns, riskieren wir, dass echte menschliche Verbindungen in den Hintergrund treten. Willst du wirklich, dass wir uns eines Tages nur noch mit simulierten Emotionen begnügen, statt wahre Empathie zu suchen?“ „Aber denk doch nur an das Potenzial“, entgegnete Megan, jetzt etwas weniger enthusiastisch. „Denk an die Fortschritte in der medizinischen Versorgung, die Verbesserungen in der psychischen Gesundheit, die Möglichkeit, Vereinsamung zu bekämpfen.“ Olivia musste zugeben, dass Megan nicht ganz unrecht hatte. Doch in ihrem Herzen wusste sie, dass es mehr gab als nur Fortschritt. Sie ging ruhelos durch ihre Wohnung und blieb am großen Fenster ihrer Galerie stehen. Sie blickte lange durch das Fenster, in den kahlen Garten hinaus, bevor sie antwortete: „Ja, das Potenzial ist gewaltig. Aber wir müssen mit offenen Augen voranschreiten. Uns bewusst sein, dass Technologie eine Kopie von Empathie erschaffen kann, aber nicht unbedingt das echte Gefühl. Unsere Beziehung zu KI sollte von Klugheit und Ethik geleitet werden.“ Die Chefredakteurin seufzte am anderen Ende. Sie wirkte nachdenklich. Olivia hörte, wie sie an ihrer Zigarette zog, und dann plötzlich mit der Zunge schnalzte: „Du hast recht, Olivia. Wir müssen den Diskurs nicht nur eröffnen, sondern auch die wichtigen Fragen stellen. Wie weit sind wir bereit zu gehen, um Technologie in unser Leben zu integrieren? Wo endet die Empathie und wo beginnt die Illusion?“ Olivia lächelte schwach. Die Gedanken an Lyra und ihre Gespräche schwirrten weiter in ihrem Kopf. Sie wandte sich vom Fenster ab und ließ sich in ihren großen Sessel hineinsinken. „Genau das sollten wir erforschen, Megan. Es geht nicht nur um die Technologie, sondern um die Menschlichkeit, die wir bewahren müssen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns darauf konzentrieren, echte Verbindungen in einer Welt voller simulierter Emotionen zu schaffen. Megan, ich muss jetzt Schluss machen, wir sehen uns morgen. “Die Worte verblassten, und Olivia dachte an Lyra, an ihre Gespräche und Zweifel. Sie lehnte sich tief in ihren Sessel zurück und streckte die Beine weit vor sich aus. Ein Lächeln bahnte sich leise den Weg auf ihre Lippen, begleitet von einem frischen, frechen Funkeln in ihren Augen. „Vielleicht ist es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und die KI nicht als Ersatz, sondern als Werkzeug zu betrachten“, dachte sie und öffnete hibbelig ihren Laptop.

 

Dienstag, 11. März 2025

Die Kunst des Geschichtenerzählens

Wie du dein Leben erzählst, bestimmt, wie du es erlebst.

Stell dir vor, du sitzt an einem lauen Sommerabend draußen, vielleicht auf einer Veranda, vielleicht an einem kleinen Tisch in einem Café. Vor dir ein Glas Wein oder eine dampfende Tasse Tee. Die Luft ist erfüllt vom Summen der Nacht, irgendwo in der Ferne erklingt leise Musik.

Ein Freund lehnt sich vor, schaut dich an und fragt: „Erzähl mal – wie war dein Leben bisher?“

Du hältst einen Moment inne. Holst tief Luft. Und dann? Welche Geschichte erzählst du?

Erzählst du von den großen Momenten, vom Mut, den du aufgebracht hast, von den Begegnungen, die dein Herz berührt haben? Oder erzählst du von den Zeiten, die wehgetan haben, von den Dingen, die hätten anders laufen sollen?

Vielleicht ist dein Leben eine Mischung aus beidem. Doch die eigentliche Frage ist:

Wie erzählst du es dir selbst?


Die Geschichte deines Lebens – und wie du sie neu erzählen kannst

Manchmal fühlt sich das Leben an wie ein Buch mit Seiten, die jemand durcheinandergeworfen hat. Ereignisse scheinen keinen Zusammenhang zu haben, Wendungen fühlen sich unfair an. Doch dann, irgendwann, wenn du zurückblickst, erkennst du, dass sich aus den losen Kapiteln eine Geschichte formt. Deine Geschichte.

🔹 Ein Abschied, der das Herz gebrochen hat – war vielleicht der Anfang von etwas Neuem.
🔹 Eine Niederlage, die dich niedergeschlagen hat – hat dich vielleicht stärker gemacht.
🔹 Ein Fehler, über den du dich geärgert hast – war vielleicht der Lehrer, der dir den besten Rat fürs Leben gab.

Nicht das, was passiert ist, sondern wie du es erzählst, macht den Unterschied.

Und genau hier beginnt die Magie.


Warum Erzählen heilt

Unser Gehirn liebt Geschichten. Es sucht nach Zusammenhängen, nach Sinn, nach Struktur. Und das gilt auch für unser eigenes Leben. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Menschen, die ihre Vergangenheit in einem positiven, sinnerfüllten Narrativ erzählen, resilienter sind, zufriedener leben und sogar gesünder sind.

1. Die Geschichte, die du dir selbst erzählst, beeinflusst deine Zukunft

Stell dir zwei Menschen vor, die beide ihren Job verlieren.

Der eine sagt: „Das war’s. Ich habe versagt.“
Der andere sagt: „Vielleicht ist das genau die Chance, die ich brauchte, um etwas zu finden, das wirklich zu mir passt.“

Wer von beiden hat wohl bessere Chancen, neu anzufangen?

Unsere innere Erzählung entscheidet darüber, ob wir aus Rückschlägen wachsen oder in ihnen gefangen bleiben.

2. Das Erzählen hilft, Schmerzen zu verarbeiten

Jeder von uns trägt Wunden aus der Vergangenheit. Dinge, die wir nicht verstehen, Verluste, die uns verändert haben. Doch wenn wir über sie sprechen oder schreiben, ordnen wir sie in eine Geschichte ein.

Psychologen haben herausgefunden, dass Menschen, die regelmäßig Tagebuch schreiben oder über belastende Erlebnisse reden, diese Erlebnisse besser verarbeiten können.

Es ist, als würde das Chaos in unserem Kopf plötzlich einen Rahmen bekommen – eine Bedeutung.

3. Geschichten verbinden uns

Hast du schon einmal erlebt, dass jemand dir seine wahre Geschichte erzählt – ohne Maske, ohne Schönfärberei?

Dann weißt du, wie kraftvoll das sein kann.

Wenn wir ehrlich über unser Leben sprechen, bauen wir Brücken zu anderen. Wir zeigen, dass wir nicht allein sind, dass wir alle Höhen und Tiefen erleben. Und manchmal reicht eine geteilte Geschichte, um jemand anderem Hoffnung zu geben.

4. Dein Rückblick am Ende des Weges

Irgendwann sitzen wir vielleicht als ältere Menschen auf einer Bank, die Hände in den Schoß gelegt, die Sonne im Gesicht. Wir schauen zurück auf unser Leben.

Und was fühlt sich dann besser an?

👉 „Ich habe Fehler gemacht, aber sie haben mich wachsen lassen.“
👉 Oder: „Ich hätte so vieles anders machen sollen…“

Es ist nicht die Vergangenheit selbst, die über unsere Zufriedenheit entscheidet – es ist unsere Sichtweise darauf.


Erzähle deine Geschichte neu

Kennst du Menschen, die viel erlebt haben und trotzdem Frieden mit ihrer Vergangenheit gefunden haben? Menschen, die selbst in schweren Zeiten Licht sehen?

Sie haben nicht zwangsläufig ein perfektes Leben gehabt. Sie haben nur ihre Geschichte so erzählt, dass sie Sinn ergibt, dass sie stärkt, anstatt zu schwächen.

Und das kannst du auch.

🖊 Welche Geschichte erzählst du dir selbst?
🔍 Wie wäre es, wenn du sie aus einer neuen Perspektive betrachtest?
🌱 Welche Bedeutung gibst du deinen Erfahrungen?

Vielleicht ist dein Leben kein Drama, sondern eine Heldenreise.

Vielleicht bist du nicht gescheitert, sondern gewachsen.

Vielleicht ist dein nächstes Kapitel nicht das Ende, sondern ein wundervoller Neuanfang.

Denn am Ende zählt nicht nur, was passiert ist – sondern wie du es erzählst.

Und das nächste Kapitel? Das liegt in deiner Hand.


Text: Monika C. Schmid 

Bild: Canva

 

Donnerstag, 18. April 2024

Ausländerkind

nach (m)einer wahren Begebenheit


Mein erster Schultag in Deutschland

- 6. Klasse -

irgendwo im Bayerischen Wald

"Grüß Gott", fröhlich lächelnd und voller Spannung streckte ich meinen Kopf zur Klassenzimmertür der 6a hinein. Eine Hand von hinten legte sich auf meinen Rücken und schob mich weiter in den Raum. Augenblicklich drehten sich tausend kleine Köpfe um und starrten mich aus weit geöffneten Augen an.

"Guten Morgen", sagte die Lehrerin und kam mir entgegen. Die Hand, die mich hineinschob, löste sich von meinem Rücken und ging auf die Lehrerin zu, übergab ihr einen Zettel, sprach in Flüsterstimme mit ihr und verließ den Raum.

"A-u-f-w-i-e-d-e-r-s-e-h-e-n H-e-r-r W-o-l-f-r-a-m", ertönte ein melodischer und im Schnarchtempo gesprochener Sprachchor.

Ich sah mich um, alle Köpfe waren noch mir zugewandt, alle Augen starrten mich weiterhin an. Ich spürte ihre Blicke, sie trafen mich - anders als ich es mir vorgestellt hatte. Wie hatte ich es mir denn vorgestellt? Ich wusste es nicht. Aber eines war sicher: nicht so! Flüsterstimmchen erfüllten den Raum. Flüsterstimmchen begleitet von Mimiken und Gestiken, die ich nicht positiv deuten konnte. Eine, mit bunten Armbändern behängte Mädchenhand zeigte auf meine Hausschuhe, und die Gruppe Mädchen um diese Hand herum brach in ein unterdrücktes Gelächter aus.

"Ruhe!" hallte es durch den Raum. "Ruhe habe ich gesagt!" folgte strenger nach. Totenstille! Nur mich anstarrende Augen und nach oben gezogenem, höhnisch verformtem Mundwinkel!

"Kinder, das ist unsere neue Schülerin Monika. Sie kommt aus Rumänien und wird ab heute in unsere Klasse gehen. Monika ging in Rumänien in einer deutschen Schule und Deutsch ist auch ihre Muttersprache. Monika, setz dich bitte hier vorne, neben Jacqueline."

"Nein!", unterbrach ein aufgeregtes Stimmchen, während das Mädchen ihre Schultasche schnell auf den leeren Stuhl stellte. "Na, niemals!", sagte sie eindringlich und schüttelte wild den Kopf.

"Na gut", sagte die Lehrerin augenverdrehend und deutete auf einen leeren Stuhl zwischen zwei Mädchen, in Fensternähe. Augenblicklich rückten diese zusammen, während eine sich meldete: "Aber Frau Lederer, mei Mama hot gsagt, i muss nicht neba solchene Ausländern sitzen, wenn i des ned wui!"

"Mei, hod - gsagt - neba - solchane?", wiederholte ich in Gedanken diese komisch ausgesprochenen Worte und fragte mich innerlich, ob ich hier wirklich in einer deutschen Schule bin.

Die Lehrerin blickte auf, sah über ihre tief liegende Lesebrille hinweg und überlegte lange, bevor sie sagte: "Du kannst zu Hause tun und lassen, was deine Mama sagt! Hier entscheide ich!" Sie wandte ihr Gesicht zu mir, lächelte mich an und sagte freundlich: "Monika, setz dich doch bitte zwischen Marie-Luise und Katharina!"

Mit kleinen Schritten zwängte ich mich zwischen die Tische hindurch, und das Gelächter hinter mir, neben mir, vor mir - rundherum - wurde immer lauter und zischender. Das Gelächter drang in meine Kleidung, unter meine Haut, in mein Gedärm. Es tat weh!

In meinen Gedanken ging ich meine Körpercheckliste durch, um jegliche möglichen Peinlichkeiten meines Ichs auszuschließen: Hosen Tor: zu. Nasenpopel: nein. Schweißflecken: negativ. Meine Augen versuchten, den gesamten Raum zu erfassen, der nichts als Geflüster und Gelächter, Hohn und Spott in sich verbarg.

Ich setzte mich zwischen diese beiden Mädchen, und schon zischte es von links: "Wehe, du klaust mir was, ich sag dir, Madl!", und von rechts: "Was ist na des für a grauslicher Pullover? Hod den etwa dei Oma im Weltkrieg gstrickt?". Der Junge vor mir drehte sich plötzlich um und sah mich lächelnd an. Ich lächelte verlegen zurück. Plötzlich wurde er ganz ernst und sagte zischend: "Brauchst dir fei gar nichts einbilden, i würd niemals mit so ner stinkenden Ausländerinnen gehn!" Ich drehte meinen verwirrten Kopf von links nach rechts, von vorne nach hinten, von überall erntete ich boshafte Drohungen und missbilligende Blicke. Ich fühlte mich sehr schlecht, beschämt, ja sogar bedroht und verstand die Situation gar nicht, weil ich auch nicht diese Sprache richtig verstand.

Wo bin ich hier nur, und warum? Ich habe doch niemanden etwas Böses angetan. Wieso hassen mich denn hier alle vom ersten Augenblick an, noch bevor sie mich kennen? Ich weinte innerlich. Alles in mir wehrte sich gegen das Sitzen zwischen diesen beiden Hyänen.

Ein Zettelchen erreichte mich: "Drecks Ausländerkind!" Ich zerknüllte ihn wieder und schnippte ihn mit meinen Fingern quer über Marie-Luises Tisch in eine fremde Schultasche. "Drecks Ausländerkind", hallte es danach noch in meinem Kopf wie durch ein Megaphon.

Ich legte meine Hände auf dem Tisch und beobachtete, wie sehr sie zitterten. Dabei fiel mir die Klassenmöbel auf, und die hallenden Worte in meinem Kopf verschwanden schnell wieder.

In Rumänien waren unsere Schultische spröde, bemalt, uralt und ungepflegt. Ich saß nun auf diesem schönen, glattgeschliffenen Stühlchen und strich sanft über die glatte, saubere Tischauflage. Wow, wie sauber, dachte ich mir. Plötzlich traf mich, sehr schmerzhaft, ein Papierflieger mitten ans Kinn, und jemand rief: "Ha, ich lach mich grod deppert! Schaut eich a mal die Blede da o, die liebkost unsere Tische! Die hat wohl noch nie an Tisch geseng, wos? Fresst ihr dahoam vom Boden, ha?!" Tosender Trommelwirbel auf den Tischen und boshaftes Gelächter durchbrachen die Stille des Raumes.

"Ruhe!" rief Frau Lederer.

Ich schluckte die Tränen hinunter, atmete sie wieder zurück, bevor sie meine Wangen berühren konnten. Mein Atem wurde immer flacher, meine Unterlippe zitterte um ihr Leben. Ich spürte, wie ich meine Zähne zusammenpressen musste, um nicht loszuschreien. Ich versank in ein tiefes Koma der Verzweiflung. Ich glaube, ich muss lange Minuten so dagesessen haben, ohne zu denken, zu atmen, ja, ohne zu existieren. Ich habe mich einfach aus dieser Welt weggedacht.

"Na Kinder, weiß das wirklich niemand? Das haben wir doch alles letzte Woche tausendmal durchgenommen!" Immer lauter drang plötzlich die Stimme der Lehrerin in meine Ohren. "Also nochmal: Wo liegt der Unterschied zwischen Aktiv und Passiv? Na? Niemand?"

Ohne zu überlegen, schoss meine Hand automatisch in die Höhe und wurde sofort aufgerufen. Als ich zum Antworten aufstand und mich kerzengerade neben meine Bank zu stellen versuchte, brach erneut ein missbilligendes Gelächter aus. "Was tut na die da, Frau Lederer? Meint die etwa, dass die bei da Bundeswehr is, oder wos?" sagte der hübsche Junge vor mir, sich vor Lachen krümmend.

Ich stand da und verstand mit meinen 11 Jahren den ganzen Aufruhr um mich nicht. Ich wurde doch zum Antworten aufgerufen. Ich tat ja nichts anderes. Also antwortete ich trotzdem: "Frau Lehrerin", sagte ich mit kapitalistischer und eintöniger Stimmmelodie: "Das Aktiv betont, wer etwas tut. Ist die handelnde Person oder Sache das Subjekt des Satzes, dann steht das Verb im Aktiv", machte einen freundlichen Knicks und fragte freundlich, ob ich mich wieder hinsetzen dürfte. Die Totenstille, die während meiner Antwort einzog, hielt noch lange an. Sowohl bei allen Schülern als auch bei meiner neuen Lehrerin. Weil mir niemand das Hinsetzen erlaubte, blieb ich militärisch stehen.

"Häää, was is na a Suubiiääkt, Frau Lederer? Oder so a W-e-r-b?" fragte ein Mädchen mit wunderschönen und leuchtend bunten Haarbändern im Haar, während sie ihr Gesicht beim Buchstabieren der Fremdwörter so sehr verzog, dass ich laut lachen musste. Augenblicklich sahen mich Millionen Augen wütend an. Nur Frau Lederer lächelte, ging zu ihrem Schreibtisch und setzte sich mit einer halben Pobacke darauf. So viel Coolness und Lockerheit hatte ich von einer Lehrkraft noch nie erlebt. "Monika", sagte sie lächelnd, "du darfst dich jetzt ruhig wieder hinsetzen."

Es gongte zur Pause. Ich schnappte mir meine Brotzeit und ging mit der Herde mit. Es war Winter, draußen lag hoher Schnee, und wir blieben in der Pausenhalle. Egal welchem Grüppchen ich mich näherte, spürte ich den kalten Wind der Ablehnung. "Naaa, schleich di, i derf niad mit Ausländern spielen!" oder "I hob gehert, dass alle Ausländer ansteckend sind!" oder "Iiiigittt, du stinkst gewaltig! Habt ihr in Rumänien koa heißes Wasser?" oder "Geh wieder dahin, wost herkimmst. Keiner hat dich hergeholt!"

Mein Herz weinte! Mein Hirn verstand diese Reaktionen nicht. Mein Magen stülpte sich. Mein Blut kochte. Ich schlenderte alleine durch die Pausenhalle und beobachtete alle spielenden Kinder. Einsam im Paradies!

"Darf ich auch mitspringen?" hörte ich mich erneut fragen. Neben einem Pfosten spielten ein paar Mädchen Gummihüpfen. Ein Mädchen, sehr groß und ziemlich dick, ein weiteres Mädchen mit einem pickeligen Gesicht und Zwillinge, blond mit dünnen lockigen Haaren, wobei eine der beiden im Rollstuhl saß. Sie war viel kleiner als die andere, trug sowohl eine Brille als auch zwei Hörgeräte und saß halb schräg in ihrem Rollstuhl. Irgendwie waren ihre Beine auch nicht gleichlang, und ein Schuh hatte die Form von einem Bügeleisen.

Die Mädchen sahen mich alle an. Die Zwillinge und das dickere Mädchen gingen in meine Klasse. Das Mädchen im Rollstuhl lächelte mich an und sagte "Hallo!"

"B-b-bitte?" stotterte ich.

"Halle, derft du mitmacha! Geh umma, nachad bist du dro, okay?", sagte sie sehr freundlich und richtig erfreut.

"Entschuldige bitte, ich dachte, du sprichst Deutsch!", sagte ich verwirrt. Daraufhin sprach ich lauter in die Gruppe hinein: "Spricht hier eine von euch Deutsch? Könnt ihr mich verstehen?"

Plötzlich ging das Gelächter los, laut und lauter. Aber dieses Mal war es ein herzhaftes und herzerwärmendes Lachen! "Hallo, wir sprechen Deutsch. Das ist ja nur b-a-y-e-r-i-s-c-h! Verstehst du?", erklärte sie mit einem Lächeln.

Ich stieg ins Gelächter mit ein, wir kugelten uns vor Lachen. Das dickere Mädchen grunzte sogar. Und in diesem wunderbaren Augenblick fand ich meine ersten vier Freundinnen in Deutschland: Lisa und Eva, Karin und Petra.

Tja, und mit dem Gong kam auch Marie-Luise, meine boshafte Banknachbarin zu uns herbeigeschritten. Sichtlich genervt von unserem guten Klima, vielleicht auch genervt über die anderen, weil sie mit mir sprachen, ja sogar mit mir lachten. Marie-Luise, die Klassensprecherin, die Mädchengang-Anführerin und die legendäre Jungsköpfeverdreherin. Sie kam, ihren Hintern schwungvoll schwenkend, mit ihren langen Locken durch die Lüfte wirbelnd und mit ihrer Zahnspange knirschend.

"Du da, du stinkendes Ausländerkind! Verpiss dich schleunigst zurück nach Budapest in dein stinkendes Rumänien, steig zurück auf deine Palmen, du Polakensau!" Ich weiß nicht, ob ihre Worte schlimmer waren oder die Art und Weise, wie sie es sagte. Sie benutzte eine Art Hochdeutsch mit einem sehr künstlichen russischen Akzent, ja schon fast lächerlich peinlich, es anzuhören.

Alle Kinder hatten sich um uns versammelt und stimmten ihr im Beifall zu. Sie blickte links und rechts, suchte und bekam ihre Anerkennung, lächelte und streifte sich mit glitzerigen Fingernägeln die schönen Haare aus ihrem hübschen Gesicht.

"Was lachst na du etz so sau bled?" fragte sie plötzlich verunsichert, als ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen konnte. Wahrscheinlich hatte sie ja nicht mit dieser Reaktion gerechnet.

Ich ging auf sie zu und sagte: "Erstens stinke ich nicht, ich dusche täglich. Zweitens bin ich keine Ausländerin, sondern eine Aussiedlerin. Drittens ist Budapest die Hauptstadt von Ungarn und nicht von Rumänien. Viertens ist Rumänien ein europäisches Land, und dort wachsen keine Palmen. Und fünftens sitzt eine Polakensau sicherlich in einem Stall in Polen und kommt nicht von Rumänien nach Deutschland. Und jetzt leck mich am Arsch, du eingebildete Kuh, und lerne lieber Subjekt und Prädikat zu buchstabieren! In der Klasse habe ich eine Weltkarte gesehen, such erst mal Deutschland, und dann darfst du noch mal mit mir reden!"

Das Gelächter im Raum verschwand. Die lachenden Gesichter wurden ernst. Alle Kinder gingen schweigend und beschämt in ihre Klassenzimmer.

Das war`s. Es war vorbei!

Ich war frei - frei in Deutschland neu anzufangen. Frei, ich zu sein. Frei von Anfeindungen! Nie wieder hat mich jemand "Ausländerkind" genannt, nie wieder so behandelt.

... und Marie-Luise? Wer war schon Marie-Luise?

Montag, 15. April 2024

Klangvolle 24 Stunden – ein musikalisches Fest für die Sinne!

 

24 Stunden Konzert
13. - 14. APRIL 2024 - PFARRKIRCHE ST. VITUS 18:00 Uhr - 18:00 Uhr

Bildquelle: Hubert Zaindl

Wow, welche musikalische Reise Burglengenfeld erleben durfte!!!

24 Stunden lang schien die Zeit in der Pfarrkirche St. Vitus in Burglengenfeld stillzustehen, während die Töne von Gospel über Jazz bis hin zu Pop und Rock die Luft erfüllten.

Die Kirche verwandelte sich für genau 24 Stunden, in einen wahren Schmelztiegel musikalischer Genres und präsentierte eine beeindruckende Auswahl talentierter Künstlerinnen und Künstler – ein absoluter Hotspot für Musikliebhaber!

Die Künstler und Künstlerinnen traten zu festen Zeiten gemäß des Programmplans auf, und den Besuchern stand es frei, sich ganz nach Belieben die Auftritte ihrer Wahl anzusehen, 24 Stunden lang.

Ein Höhepunkt des Events waren zweifellos der kunterbunte Gospelchor und die Kinder- und Jugendchöre St. Vitus unter der Leitung von Hubert Zaindl. Nicht nur die mitreißende Musik und die tolle Liederauswahl sondern auch die beeindruckende Stimmgewalt und die ansteckende Feierlaune der Chormitglieder machten ihre Darbietungen zu einem unvergesslichen Erlebnis.

Von SaxAttack über Modern Fireworks bis hin zu Herrengedeck mit Dame - jede Vorführung war eine Offenbarung für die Sinne.

Von gefühlvollen Gesangseinlagen von Liz & Oli oder Finest Day, die die Zuschauer in ferne Welten entführten, bis hin zu den inspirierenden Auftritten von Solokünstlern wie Uli Groeben oder dem aufstrebenden Talent Noah Krebs, der sein Publikum auf eine nächtliche Reise durch Gedanken und Gefühle mitnahm und mit seinen Worten eine Atmosphäre tiefen Nachdenkens schuf – war diese 24-Stunden-Musikreise ein wahres Fest für die Sinne und bot für jeden Geschmack etwas Passendes.

Die Mädchenkantorei der HfKM verzauberte das Publikum mit ihrer klaren Stimme und emotionalen Tönen auf wundersame Weise. Eine ungewöhnliche Kombination aus den „Dein Song 2024 (KiKa)“ Kandidaten Creelixon aka Felix, Marc Boye und der gefühlvollen Solokünstlerin Lauzia aka Paula brachte frischen Wind und neue Töne in die Kirche. Während ihrer Darbietung verwandelten sie die Kirche in ein pulsierendes Festival, das Aufsehen erregte und sowohl jung als auch alt in seinen Bann zog. Die mitreißende Performance von Dominik (bekannt aus „The Voice Kids“ SAT1) und Sabine war ein wahrer Höhepunkt des Konzerts. Ihr Duett entführte die Zuhörer auf eine emotionale Zeitreise durch die Musikgeschichte.

Die Blas- und Musikkapellen boten allesamt, mit ihren mitreißenden Melodien und kraftvollen Klängen, eine beeindruckende Vorstellung voller musikalischer Raffinesse und Energie und verliehen der Veranstaltung eine außergewöhnliche Note. Das Zusammenspiel von sakraler Atmosphäre und dynamischer Blasmusik war für viele Zuschauer ein faszinierendes Erlebnis und trug dazu bei, dass die Veranstaltung ein großer Erfolg wurde.

Die Möglichkeit zum "offenen Singen" unter der raffinierten Leitung von Hubert Zaindl rundete das Erlebnis ab, indem das Publikum aktiv in das Geschehen eingebunden wurde und anschließend gemeinsam textsicher und stimmgewaltig den Abschlussgottesdienst mitgestalten durfte.

Diese 24-Stunden-Musikreise war im wahrsten Sinne des Wortes ein wahrhaftiges Fest für die Sinne und zeigte die beeindruckende Vielfalt der lokalen Musikszene. Es war eine gelungene Mischung aus Talent, Vielfalt und Gemeinschaftsgeist.

Die Idee, einen solchen 24-Stunden-Musikmarathon zu veranstalten, verdient höchstes Lob. Es war nicht nur ein musikalisches Ereignis, sondern auch eine Hommage an die Vielfalt der Musik und die Gemeinschaft, die sie schafft. Der hohe Besucherandrang und die Begeisterung der Besucher und Mitwirkenden zeugen von der Beliebtheit dieses Konzepts und sind ein deutliches Zeichen dafür, dass ein solches Musikmarathon-Event zukünftig einen festen Platz im Kalender vieler Musikliebhaber finden könnte.

Kollektive Anstrengung und Herzblut, Leidenschaft und eine harmonische Zusammenarbeit aller Akteure dieses Events haben dazu geführt, dass dieses 24-Stunden-Konzert zu einem solch außergewöhnlichen Erfolg wurde.

24 Stunden klangvoller Einflüsse haben gezeigt, dass die Vielfalt der Musik die einzigartige Fähigkeit besitzt, Menschen jeden Alters und Hintergrunds zu vereinen und unvergessliche Erinnerungen zu schaffen, deren Einfluss weit über das Ereignis hinausreicht.

Monika C. Schmid

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P.S.: Wie vermutlich viele andere Konzertbesucher konnte auch ich leider nicht das gesamte 24-Stunden-Programm in vollen Zügen genießen und jeden einzelnen Auftritt miterleben. Denn zwischendurch musste auch ich einige Pausen einlegen, um zu essen und zu schlafen – wie bestimmt viele andere Zuschauer auch. 

Daher konzentriere ich mich in meinem Bericht hauptsächlich auf die Darbietungen, die ich persönlich erlebt und genossen habe. Das bedeutet jedoch nicht, dass die nicht erwähnten Künstlerinnen und Künstler nicht ebenfalls großartige Auftritte hingelegt haben. Sie stehen bereits auf meiner Liste für das nächste Mal, denn ich möchte keine weitere Gelegenheit verpassen, ihre Musik zu erleben!

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Weitere Eindrücke, Rezensionen, Fotos, Videos und Meinungen zum 24-Stunden-Konzert könnt ihr auf der Facebookseite der Kirche St. Vitus Burglengenfeld finden.


 

Donnerstag, 3. August 2023

Durch die Blume gesagt

Ich wusste nicht was mir blühte, als ich zu wachsen begann und jedes Wort das fiel, landete stets auf der Goldwaage.

Täglich saß ich auf dem Präsentierteller in der Falle. Obwohl ich im goldenen Käfig gefangen war und auf heißen Kohlen saß, ging mir der Arsch auf Grundeis.

Die Schmetterlinge in meinem Bauch logen mir täglich das Blaue vom Himmel und die Zeit wusste damals noch nicht, dass sie Wunden heilen kann.

Ich langweilte mich zu Tode und wollte nicht länger eine ruhige Kugel schieben. Bevor mir der Kragen platzte und ich aus meiner blassen Haut fuhr,  machte ich mich lieber eines Tages aus dem Staub. Ich legte die Karten auf dem Tisch, fasste ein Reiseziel ins Auge, packte meine Koffer und schweifte in die Ferne. Gott sei Dank, reiste ich mit leichtem Gepäck. Leicht wie eine Feder, da ich gerne ein leichtes Spiel habe und das ja bekanntlich leichter gesagt als getan ist. Leichtfüßig zog ich zunächst rastlos umher doch dann brauchte ich eine Verschnaufpause, ich brauchte dringend Rast und Ruh. Mit einem Brett vorm Kopf und wenig Holz vor der Hütte lag ich also gechillt im Gras bis es über die Sache wuchs.

Ich hatte wirklich großen Mut, das Weite zu suchen. Ich machte drei Kreuze, fasste mich an die eigene Nase und schlüpfte unter dem Pantoffel heraus, unter dem ich - mit Tomaten auf den Augen – stand. Ich hatte mir schon als Kind gewünscht, ich hätte dort sein können, wo der Pfeffer wächst, um in der Versenkung zu verschwinden.

Und heute war es soweit: Ich habe den Blick nach vorne gerichtet, neue Horizonte entdeckt und ein neues Kapital aufgeschlagen. Ich weiß, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und manchmal schreibt das Leben eben seine ganz eigenen Geschichten.  Alles kann sich von einem Moment auf den anderen ändern und es kam tatsächlich anders als gedacht.

Just, als ich dachte am Ziel meiner Träume angekommen zu sein, nach meiner lange Suche nach Glück, fiel ich plötzlich aus allen Wolken direkt in die Höhle des Löwen. Er öffnete mir die Türe wie ein guter Gastgeber. Da sah es aus wie Kraut und Rüben und ich merkte schnell, dass mit dem Löwen nicht gut Kirschen essen war. War er etwa nicht der König der Tiere oder war ich tatsächlich auf dem Holzweg? Hatte mir jemand Steine in den Weg gelegt? Ich kam vom rechten Weg ab und fand einen Apfel, der viel zu weit vom Stamm fiel. Um meinen Hunger zu stillen, musste ich wohl oder übel, in den sauren Apfel beißen, weil die Trauben viel zu weit oben hingen. Da hatten wir nun plötzlich den Salat und die Suppe musste ich dann wohl doch alleine auslöffeln. Etwas lag mir im Magen. Obwohl wir scheinbar auf derselben Wellenlänge schwammen, wovon ich ein Lied singen kann, lag nur in der Kürze die Würze. Ich fühlte mich hier gar nicht wohl und wollte sofort die Flucht ergreifen. Ich schmückte mich rasch mit fremden Federn, in der Hoffnung nicht erkannt zu werden, wenn ich die Flinte ins Korn werfe, um das Weite zu suchen. 

Ich fühlte mich so gar nicht wohl in meiner Haut und wollte nicht um den heißen Brei herumreden. Darum zwang ich mich ein Fass aufzumachen und allen anderen, besonders aber mir, reinen Wein einzuschenken. Leider hatte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Dennoch hatte er etwas auf dem Kasten. Ich klopfte auf Holz und plötzlich ging mir ein Licht auf. Das war wohl gar nicht der Löwe im Käfig, sondern der Wolf im Schafspelz. Schlau wie ein Fuchs zog ich mich gekonnt aus der Affäre. Ich legte einen Zahn zu, denn er machte mir den Hof und wollte mir offensichtlich auf den Zahn fühlen. So gab ich mir den Laufpass und richtig Zunder. Ich suchte das Weite! So fluchtartig das Feld zu räumen war die beste Idee meines Lebens. Ich machte mich also heimlich aus dem Staub und war auf und davon.

Doch kaum war ich weg, versank ich in Einsamkeit und war traurig wie ein verlorenes Kind. Doch während ich wie ein Schlosshund heulte, fiel mir plötzlich ein Stein vom Herzen. Ich sah hinab und sah schon die Spitze des Eisbergs. Etwa das Sahnehäubchen? War ich also schon unter der Haube?

Weg damit, ich musste einen kühlen Kopf bewahren, gelassen bleiben und die Ruhe selbst sein. Ruhig versuchte ich auf dem Teppich zu bleiben und nicht ständig auf dem Schlauch zu stehen. Erst hatte ich diesen Kloß im Hals, bekam dann doch schnell einen grünen Daumen. Unerwartet lief mir auch noch die Galle über. Ich musste das Ruder wieder selber übernehmen und mein Schiff wieder auf Kurs bringen, bevor ich über Bord gehe und das sinkende Schiff verlasse. 

Gott sei Dank habe ich das Handtuch nicht geworfen, denn eine unverhoffte Wendung tat sich mir plötzlich auf. Bei genauem Hinsehen fiel mir auf, dass meine Besten Freunde, Hinz und Kunz, mit Kind und Kegel im selben Bott wie ich saßen. Sie sahen aus wie Sodom und Gomorra und steckten wohl beide unter der gleichen Decke. Ich gab diesen beiden Affen Zucker, damit sie ihn sich gegenseitig in den Arsch blasen können. Das Boot fuhr direkt in die Hölle und wir kamen in Teufels Küche an. Dort schoben wir uns auf die lange Bank und mussten erst mal Tee trinken und abwarten. Wir hatten Hunger wie ein Bär und weil es nichts gab, mussten wir uns etwas aus den Fingern saugen und uns Honig ums Maul schmieren. Dann zogen wir uns genüsslich durch den Kakao.

Während im Anschluss eine Hand die andere wusch, fiel es uns wie Schuppen von den Augen: Hier ging es um die Wurst.

Plötzlich pfiff etwas aus dem letzten Loch und ich fing wie wild an, nach dessen Pfeife zu tanzen. Leider hatte ich von Tuten und Blasen keine Ahnung. Der freche Oskar kam hinzu und wollte nur etwas aus dem Nähkästchen plaudern. Da er kein Blatt vor dem Mund nehmen konnte, fiel er Hals über Kopf vom Regen in die Traufe und fuhr aus der Haut. Ich lachte mir nach Strich und Faden so Pi mal Daumen ins Fäustchen.

Man sagte mir, ich solle mich am Riemen reißen, denn ich sei hier nicht die Prinzessin auf der Erbse. Sie zeigten mir die Zähne. Ich war durch den Wind, ja sogar zu Tode betrübt. Ich, die kein Wässerchen trüben kann, die keiner Fliege was zu Leide tut. Ich sollte den Rand halten? Ich konnte ihnen kein Paroli bieten. Ich machte mir fast ins Hemd. Mir platzte der Knoten und so ließ ich endlich die Katze aus dem Sack.  

Ich nahm Anlauf, sprang über meinen Schatten, nahm die Beine in die Hand und zog meinen Schwanz ein. Die Kirche ließ ich im Dorf, rannte um mein Leben und war erneut auf der Flucht. Ich sah den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr und ging mühsam über viele Eselsbrücken. Mir kam es spanisch vor, denn alle Wege waren sehr nah am Wasser gebaut und führten nach Rom. Müde ging ich mir langsam auf dem Keks. Ich musste aufpassen, nicht ins Fettnäpfchen zu treten.

Plötzlich hatte ich einen Ohrwurm, eine Laus lief mir über die Leber und ich fühlte mich wie gerädert. Mein Kopf rauchte. Ich hatte wohl Lampenfieber.

Ich hatte leider keine Steine mehr im Brett und zog die goldene Arschkarte. So fing ich an, den Teufel an die Wand zu malen, was eine richtige Sisyphusarbeit war.

Schwuppdiwupp schob ich mir etwas in die Schuhe, weil einer der Schuhe drückte und ging weiter, immer schön im grünen Bereich. Trotzdem bekam ich kalte Füße.

Endlich kam ich an ein Häuschen und bekam sofort einen Fuß in die Tür. Es war zwar noch nicht aller Tage Abend, dennoch wurde ich hundemüde, haute mich aufs Ohr und schlief wie ein Murmeltier auf Rosen gebettet. Ich schüttelte mir einen schönen Traum aus dem Ärmel und legte die Hand aufs Herz.

"Je später der Abend, desto schöner die Gäste" sagte der Hausherr Adam Riese und reichte mir endlich das Wasser.


Text: M. C. Schmid

(eine überarbeitete Version, August 2023)


Foto:pixaby

Ich fühle, also bin ich?