Samstag, 27. Januar 2018

Ein Tag im November

- Kurzkrimi

KAB- Artmajeur


„Antonia?“
„Ja!“
„Schatz, kannst du mich hören?“
„Ja, ich höre dich!“
„Hörst du mich? Hallo! Antonia?“
„Ich kann dich ganz gut hören! Wieso flüsterst du?“
„Antonia? Falls du mich hören kannst! Ich liebe dich, hörst du? Ich werde dich immer lieben!“
„Karl?“
„Bitte verzeih mir!“
„Karl? Was ist denn los? Wo bist du? Karl! Hörst du mich? Ich liebe dich doch auch. Karl?“
„Karl? Bist du noch dran? Karl!“

Sie eilte aus dem Friseursalon auf die laute Straße hinaus und zog die Türe hastig hinter sich zu.
„Karl? Karl!“
>>tut tut tut>>
Zitternd senkte sie das Handy von ihrem Ohr und starrte erschrocken auf dem Bildschirm. Kalter Wind wehte ihr ins Gesicht und wirbelte ihr langes, frisch frisiertes Haar durcheinander. Antonia suchte mit ihrem Blick die Straßen ab.  Er sollte doch längst da sein. Ein unwohles Gefühl schnürte sie ein. Sie ahnte nichts Gutes.
Lautes Hupen riss sie aus ihrem flauen Gemütszustand. Sie erschrak und blickte auf. Eins, zwei, drei Feuerwehrautos rasten mit Blaulicht und lauten Sirenen die Straßen hinunter, ein Notarztfahrzeug und ein Krankenwagen hinterher. Von der Südtangente hörte sie die schrillen Polizeisirenen, die ebenfalls Richtung Obermünsterbrücke fuhren. Sie umschloss ihr Handy fest in der Hand. „Karl!“ dachte sie erschrocken.
Antonia schnallte sich hektisch die Aktentasche quer über die Schulter und rannte auf einmal los. Ein ungutes Gefühl sagte ihr, sie müsse den Sirenen folgen. Die Lichter der entgegenkommenden Autos spiegelten sich in den nassen Straßen und blendeten sie. „Scheiße! Mann, pass doch auf!“ brüllte Antonia einem Radfahrer hinterher, der zu nah an ihr vorbeigefahren war. Beim Versuch ihm auszuweichen, landete sie mitten in eine große Pfütze. Knöcheltief im Wasser hielt sie für ein paar Sekunden inne und beobachtete ihre Stiefeletten. Das graue Wildleder war durchnässt. „Die sind dann wohl auch im Arsch!“ schrie sie dem, längst schon zwischen die Autos verschwundenen, Radfahrer hinterher. Im Rausche der Sirenen hob Antonia den Kopf und beobachtete den Stau, der sich schon weit vor der Brücke gebildet hatte. „Was ist nur los da vorne, wieso geht es nicht weiter?“ Hupend beschwerte sich ein Autofahrer durch die geöffnete Fensterscheibe seiner Fahrertür. Passanten waren ebenfalls stehen geblieben und tuschelten untereinander. Antonia mischte sich unter die Menschenansammlung an der Brückenmündung und versuchte sich ebenfalls, wie all die Schaulustigen, einen Überblick zu verschaffen. Doch sie konnte nichts Außergewöhnliches sehen. Zu viele Menschen versperrten ihr die Sicht auf die parkenden Feuerwehrautos. Immer stärker aufkommende Unruhe machte sich in ihr breit. Zitternd führte sie eine Hand zum Mund und presste ihre schlanken Finger fest dagegen. Aus einer tiefen, verzweifelten Unruhe heraus hätte sie laut losheulen können. In der anderen Hand hielt sie immer noch ihr Handy fest umschlossen. Sie öffnete es. Ihr Bildschirm leuchtete hell auf. Ihr Herz pochte schmerzhaft wild. Zögernd wählte sie den Rückruf der letzten Nummer. „Geh ran! Bitte geh ran!“ flehte sie, während ihr der viel zu lang andauernde Klingelton nichts Gutes verheißen mochte.  „Karl, verdammt noch mal! Wo bist du denn nur? Geh jetzt sofort ran!“
<<The person you are calling is not available at the moment. Please try again later<<

Heiße Tränen stiegen ihr langsam in die Augen und trübten ihr die Sicht auf die Brücke. Verschwommen sah sie die Blaulichter der Notfahrzeuge blinken. Die Sirenen schienen langsam zu verstummen. Kalte Schauer durchschossen ihren Körper, der sich wie in Trance zwischen all den Menschen hindurch schlängelte, die sich um die Einsatzwägen versammelt hatten. „Es soll ein Mann gewesen sein, mehr sagen die nicht!“ hörte sie jemanden sagen. „Da ist einer von der Brücke gesprungen“, schrie eine Frau. „Sie untersuchen gerade sein Auto“, sagte eine andere.
Antonia hatte die Absperrung der Polizei erreicht und erkämpfte sich den besten Platz auf das Geschehene. Ihre Augen suchten verzweifelt nach Irgendetwas, sie wusste nicht wonach sie suchte. Plötzlich hielt sie den Atem an. Ihre Hand legte sie sich erneut schützend über ihren Mund, um ein lautes Aufschrien zu verhindern. In der anderen Hand tönte immer noch die Roboterstimme: „The person you are calling…“. Ihr Magen stülpte sich. Sie fing laut an zu weinen. Schwerelos verloren ihre mageren Beine den Halt und knickten ein. Zeitlupenähnlich sank die junge Frau zu Boden und blieb am Bürgersteig der Brücke sitzen. Ihr roter Mantel, der an die Farbe reifer Tomaten erinnerte, saugte das Wasser der Pfütze unter ihr auf. Wie ein, in Blut durchtränkter, Bleikittel zog er sie nach unten. Sie starrte das Auto an. Sie starrte ihr Auto an. Da stand er, ihr alter grüner BMW, mit dem verbeulten rechten Kotflügel, weißer Wandfarbekratzer an der Stoßstange und einer langen, breiten Schramme quer über der Kühlhaube. „Schatz, das ist ein Straßenauto und kein Autoscooter auf der Kirmes!“ Gerne zog Karl Antonia auf, wenn sie hinterm Steuer saß und er sich beidhändig in jeder Kurve am Armaturenbrett abstütze. Da stand es, ihr Straßenauto, mit weit geöffneten Türen mitten auf der rechten Fahrbahn der Brücke. Sie erkannte Karls ersten Babyschuh, aus weißen Leder mit zwei schwarzen Streifen, den sie gemeinsam an ihrem 1. Hochzeitstag an den Innenspiegel angebracht hatten.  Den anderen Schuh trug Karl an seinem Schlüsselbund. „Aus Zeichen der Verbundenheit“, sagte er immer augenzwinkernd.
Mit jedem Atemzug wurde ihr immer klarer, dass ab diesem Tag nichts mehr so sein wird, wie es mal war.
Sie sammelte all ihre Kräfte und hievte sich zitternd in die Höhe. „Karl! Karl!“ schmerzhaft schnürten ihr diese Rufe, ohne jegliche Hoffnung auf eine Antwort, die Kehle ein. „Karl, wo bist du nur?“ Sie lief durch die Polizeisperre zum Auto und durchsuchte es hastig. Auf dem Beifahrersitz lagen Karls Laptop, sein Diensthandy, seine Zigaretten und sein Geldbeutel. Der offene Geldbeutel schien durchwühlt, sein Ausweis lag obendrauf. „Karl, verdammt! Was ist passiert?“
Zwei kräftige Arme umklammerten sie plötzlich und zogen sie mit festen Griffen vom Auto weg: „Bitte, beruhigen sie sich! Bitte beruhigen sie sich!“
„Ich bin ja schon ruhig! Ich bin ruhig, ok?“ schrie Antonia und kämpfte sich frei. Der Polizist, der sie soeben noch festhielt, lies erschrocken locker. Sie entriss sich dem Griff und blickte, mit, von Tränen verschmierter Wimperntusche, einem hoch gewachsenen und gut durchtrainierten Polizisten genau ins Gesicht.
„Ich bin ruhig, verdammte Scheiße! Sehen sie, wie verdammt ruhig ich bin?“ zitternd hielt Antonia ihm ihre offene Hand vor die Augen. „Ich bin tiefenentspannt! Ich könnt gleich platzen, so ruhig bin ich!“. Sie wischte sich mit dem nassen Ärmel quer übers durchnässte Gesicht. Ihren suchend fragenden Blick konnte sie nicht ruhig halten. Der Regen hatte erneut angefangen und leitete mit kleinen, schmerzenden Tropfen die Abenddämmerung ein. Die Stadt glänzte bunt in den grellen Scheinwerferlichtern der vielen Autos auf der Brücke.
Sie atmete hastig und strich sich wild durch die plattgeregnete Dauerwelle, wofür sie doch soeben ein halbes Vermögen gezahlt hatte: „Wo ist mein Mann? Wo zu Teufel ist Karl?“ schrie sie, sich im Kreis drehend und jeden Zentimeter der Stadt mit ihren Blicken verwirrt durchsuchend. „Wo?“ Sie zerrte verzweifelt an den Arm des Polizisten. „Wo, verdammt noch mal, wo ist er?“
„Sie kannten Herrn Rabe?“ fragte der Polizist ruhig und emotionslos, während er sich sanft aus ihren Fängen befreite.
„Was?“ Antonias Stimme stockte. „Was?“ Sie trat ein paar Schritte zurück.
„Ob sie das Opfer, Herrn Karl Rabe, kannten?“ wiederholte der Mann in Uniform.
Antonia spürte lähmende Ohnmacht aufkommen und atmete den schwindelerregenden Zustand ein und aus.
„Das ist sie! Das ist die Frau die ihn gestoßen hat!“ durchdringt plötzlich eine aufgebrachte Männerstimme die Stille ihrer anbahnenden Bewusstlosigkeit.
Antonia erschrak. Sie kam wieder zu sich, heraus aus der Schwerelosigkeit ihres Schreckens. Es herrschte Unruhe.  Die Schaulustigen blickten sich erschrocken um. Antonia drehte sich verwirrt im Kreis. „Ja, die da! Die mi’m roten Mantel. Das habe ich genau gesehen!“ ertönte es erneut. „Sie hat mit dem Mann gestritten, dann hat sie ihn von hinten über die Brüstung von der Brücke gestoßen!“
Noch bevor die vergiftete Luft Antonias Lunge wieder verlassen konnte, spürte sie schon die festen Griffe des Polizisten, von links und von rechts und von überall.
„Bitte machen sie jetzt keinen Ärger und begleiten uns auf die Polizeiwache!“ befahl die emotionslose Stimme und schob Antonia auf den rechten hinteren Platz des Polizeiautos. Die Türen schlossen sich. Der Lärm der Stadt verstummte. Der Regen prasselte wütend auf das Dach des Autos. Die Welt stand still.
Auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, auf gleicher Höhe, fuhr ein schwarzer Kleintransporter an. Der Fahrer lächelte zufrieden in sich hinein. 

„Opfer? Ist meinem Mann etwas passiert?“, Antonia starrte den Polizisten neben ihr an. Ihre Unterlippe zitterte. Sie konnte sie nicht unter Kontrolle halten.  Der Polizist durchsuchte Antonias Brieftasche, die er ihr vor dem Einsteigen abgenommen hatte. „Frau Rabe“, er starrte lange auf ihren Ausweis in seiner Hand und vermied bewusst ihren Blickkontakt. „Wussten sie, dass ihr Mann heute gegen 16 Uhr über die Obermünsterbrücke in die Innenstadt fahren wollte?“ Sein Atem roch eindringlich nach Pfefferminz. „Natürlich wusste ich das!“ Antonia wandte ihren Blick zum Fenster und blickte weit hinaus in die Dunkelheit. Der Wagen hatte längst seine Fahrt zur Polizeiwache aufgenommen und bog in die Südtangente ein. „Glauben sie etwa, ich hätte was mit der Sache hier zu tun? Was ist denn eigentlich passiert? Wo ist er überhaupt? Wieso sagt mir hier denn keiner was? Verdammt noch mal!“
Da wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf ein grelles Licht, rechts, aus der Kreuzung kommend, gelenkt. Sie sah ein kurzes Aufblitzen. Ein lauter Knall ertönte und das Polizeiauto wurde mit voller Wucht in die Beifahrerseite gerammt. Mit großer Geschwindigkeit schob ein schwarzer Kleintransporter den Wagen, in dem Antonia mit Handschellen gefesselt saß, quer über die Kreuzung, über dem Zugübergang durch die Leitplanke. Das Polizeiauto überschlug sich drei Mal und kam dann in einem kleinen Graben auf dem Dach zum Stillstand. Das rechte Hinterrad drehte sich weiter.
Die ganze Stadt hielt für einen Augenblick den Atem an. Von tief im Inneren des Wracks hörte man ein leises Wimmern.
Durch die zerbrochene Fensterscheibe spähte Antonia auf die Straße, die verkehrt rum zu stehen schien. Sie atmete schwer. Aus ihrem Kinn floss heißes Blut aus einer klaffenden Wunde, das sich eine brennende Spur übers Gesicht, durch die Augen bis in ihre Haarspitzen bahnte. Jeder Atemzug tat weh.
Ein Mann stieg leicht hinkend aus dem Kleintransporter aus und öffnete die Beifahrertür eines daneben parkenden alten Wagens.  Im verschwommenen Glanzlicht der bunten grellen Scheinwerfer konnte Antonia sehen, dass er etwas in der Hand hielt. Einen Schlüsselbund. Daran baumelte ein kleiner weißer Lederschuh, mit zwei schwarzen Streifen. Antonia presste die brennenden Augen zusammen.
Sirenen heulten auf. Der Mann stieg ein. Eine Dame im roten Mantel ließ den Motor an und fuhr aus dem Lichtermeer der Stadt hinaus.


Monika C. Schmid

Ausländerkind