- Kurzkrimi
KAB- Artmajeur |
„Antonia?“
„Ja!“
„Schatz, kannst du mich hören?“
„Ja, ich höre dich!“
„Hörst du mich? Hallo! Antonia?“
„Ich kann dich ganz gut hören! Wieso flüsterst du?“
„Antonia? Falls du mich hören kannst! Ich liebe dich, hörst
du? Ich werde dich immer lieben!“
„Karl?“
„Bitte verzeih mir!“
…
„Karl? Was ist denn los? Wo bist du? Karl! Hörst du mich?
Ich liebe dich doch auch. Karl?“
…
„Karl? Bist du noch dran? Karl!“
Sie eilte aus dem Friseursalon auf die laute Straße hinaus
und zog die Türe hastig hinter sich zu.
„Karl? Karl!“
>>tut tut tut>>
Zitternd senkte sie das Handy von ihrem Ohr und starrte
erschrocken auf dem Bildschirm. Kalter Wind wehte ihr ins Gesicht und wirbelte
ihr langes, frisch frisiertes Haar durcheinander. Antonia suchte mit ihrem Blick
die Straßen ab. Er sollte doch längst da sein. Ein unwohles Gefühl
schnürte sie ein. Sie ahnte nichts Gutes.
Lautes Hupen riss sie aus ihrem flauen Gemütszustand. Sie
erschrak und blickte auf. Eins, zwei, drei Feuerwehrautos rasten mit Blaulicht
und lauten Sirenen die Straßen hinunter, ein Notarztfahrzeug und ein
Krankenwagen hinterher. Von der Südtangente hörte sie die schrillen
Polizeisirenen, die ebenfalls Richtung Obermünsterbrücke fuhren. Sie umschloss
ihr Handy fest in der Hand. „Karl!“ dachte sie erschrocken.
Antonia schnallte sich hektisch die Aktentasche quer über
die Schulter und rannte auf einmal los. Ein ungutes Gefühl sagte ihr, sie müsse
den Sirenen folgen. Die Lichter der entgegenkommenden Autos spiegelten sich in
den nassen Straßen und blendeten sie. „Scheiße! Mann, pass doch auf!“ brüllte
Antonia einem Radfahrer hinterher, der zu nah an ihr vorbeigefahren war. Beim
Versuch ihm auszuweichen, landete sie mitten in eine große Pfütze. Knöcheltief
im Wasser hielt sie für ein paar Sekunden inne und beobachtete ihre
Stiefeletten. Das graue Wildleder war durchnässt. „Die sind dann wohl auch im
Arsch!“ schrie sie dem, längst schon zwischen die Autos verschwundenen,
Radfahrer hinterher. Im Rausche der Sirenen hob Antonia den Kopf und
beobachtete den Stau, der sich schon weit vor der Brücke gebildet hatte. „Was
ist nur los da vorne, wieso geht es nicht weiter?“ Hupend beschwerte sich ein
Autofahrer durch die geöffnete Fensterscheibe seiner Fahrertür. Passanten waren
ebenfalls stehen geblieben und tuschelten untereinander. Antonia mischte sich
unter die Menschenansammlung an der Brückenmündung und versuchte sich
ebenfalls, wie all die Schaulustigen, einen Überblick zu verschaffen. Doch sie
konnte nichts Außergewöhnliches sehen. Zu viele Menschen versperrten ihr die
Sicht auf die parkenden Feuerwehrautos. Immer stärker aufkommende Unruhe machte
sich in ihr breit. Zitternd führte sie eine Hand zum Mund und presste ihre
schlanken Finger fest dagegen. Aus einer tiefen, verzweifelten Unruhe heraus
hätte sie laut losheulen können. In der anderen Hand hielt sie immer noch ihr
Handy fest umschlossen. Sie öffnete es. Ihr Bildschirm leuchtete hell auf. Ihr
Herz pochte schmerzhaft wild. Zögernd wählte sie den Rückruf der letzten
Nummer. „Geh ran! Bitte geh ran!“ flehte sie, während ihr der viel zu lang
andauernde Klingelton nichts Gutes verheißen mochte. „Karl, verdammt noch
mal! Wo bist du denn nur? Geh jetzt sofort ran!“
<<The person you are calling is not available at the
moment. Please try again later<<
Heiße Tränen stiegen ihr langsam in die Augen und trübten
ihr die Sicht auf die Brücke. Verschwommen sah sie die Blaulichter der
Notfahrzeuge blinken. Die Sirenen schienen langsam zu verstummen. Kalte Schauer
durchschossen ihren Körper, der sich wie in Trance zwischen all den Menschen
hindurch schlängelte, die sich um die Einsatzwägen versammelt hatten. „Es soll
ein Mann gewesen sein, mehr sagen die nicht!“ hörte sie jemanden sagen. „Da ist
einer von der Brücke gesprungen“, schrie eine Frau. „Sie untersuchen gerade
sein Auto“, sagte eine andere.
Antonia hatte die Absperrung der Polizei erreicht und
erkämpfte sich den besten Platz auf das Geschehene. Ihre Augen suchten
verzweifelt nach Irgendetwas, sie wusste nicht wonach sie suchte. Plötzlich
hielt sie den Atem an. Ihre Hand legte sie sich erneut schützend über ihren
Mund, um ein lautes Aufschrien zu verhindern. In der anderen Hand tönte immer
noch die Roboterstimme: „The person you are calling…“. Ihr
Magen stülpte sich. Sie fing laut an zu weinen. Schwerelos verloren ihre
mageren Beine den Halt und knickten ein. Zeitlupenähnlich sank die junge Frau
zu Boden und blieb am Bürgersteig der Brücke sitzen. Ihr roter Mantel, der an
die Farbe reifer Tomaten erinnerte, saugte das Wasser der Pfütze unter ihr auf.
Wie ein, in Blut durchtränkter, Bleikittel zog er sie nach unten. Sie starrte
das Auto an. Sie starrte ihr Auto an. Da stand er, ihr alter grüner BMW, mit
dem verbeulten rechten Kotflügel, weißer Wandfarbekratzer an der Stoßstange und
einer langen, breiten Schramme quer über der Kühlhaube. „Schatz, das ist ein Straßenauto
und kein Autoscooter auf der Kirmes!“ Gerne zog Karl Antonia auf, wenn sie hinterm
Steuer saß und er sich beidhändig in jeder Kurve am Armaturenbrett abstütze. Da
stand es, ihr Straßenauto, mit weit geöffneten Türen mitten auf der rechten
Fahrbahn der Brücke. Sie erkannte Karls ersten Babyschuh, aus weißen Leder mit
zwei schwarzen Streifen, den sie gemeinsam an ihrem 1. Hochzeitstag an den
Innenspiegel angebracht hatten. Den anderen Schuh trug Karl an seinem
Schlüsselbund. „Aus Zeichen der Verbundenheit“, sagte er immer augenzwinkernd.
Mit jedem Atemzug wurde ihr immer klarer, dass ab diesem
Tag nichts mehr so sein wird, wie es mal war.
Sie sammelte all ihre Kräfte und hievte sich zitternd in
die Höhe. „Karl! Karl!“ schmerzhaft schnürten ihr diese Rufe, ohne jegliche
Hoffnung auf eine Antwort, die Kehle ein. „Karl, wo bist du nur?“ Sie lief
durch die Polizeisperre zum Auto und durchsuchte es hastig. Auf dem
Beifahrersitz lagen Karls Laptop, sein Diensthandy, seine Zigaretten und sein
Geldbeutel. Der offene Geldbeutel schien durchwühlt, sein Ausweis lag
obendrauf. „Karl, verdammt! Was ist passiert?“
Zwei kräftige Arme umklammerten sie plötzlich und zogen sie
mit festen Griffen vom Auto weg: „Bitte, beruhigen sie sich! Bitte beruhigen
sie sich!“
„Ich bin ja schon ruhig! Ich bin ruhig, ok?“ schrie Antonia
und kämpfte sich frei. Der Polizist, der sie soeben noch festhielt, lies
erschrocken locker. Sie entriss sich dem Griff und blickte, mit, von Tränen
verschmierter Wimperntusche, einem hoch gewachsenen und gut durchtrainierten
Polizisten genau ins Gesicht.
„Ich bin ruhig, verdammte Scheiße! Sehen sie, wie verdammt
ruhig ich bin?“ zitternd hielt Antonia ihm ihre offene Hand vor die Augen. „Ich
bin tiefenentspannt! Ich könnt gleich platzen, so ruhig bin ich!“. Sie wischte
sich mit dem nassen Ärmel quer übers durchnässte Gesicht. Ihren suchend
fragenden Blick konnte sie nicht ruhig halten. Der Regen hatte erneut
angefangen und leitete mit kleinen, schmerzenden Tropfen die Abenddämmerung
ein. Die Stadt glänzte bunt in den grellen Scheinwerferlichtern der vielen
Autos auf der Brücke.
Sie atmete hastig und strich sich wild durch die
plattgeregnete Dauerwelle, wofür sie doch soeben ein halbes Vermögen gezahlt
hatte: „Wo ist mein Mann? Wo zu Teufel ist Karl?“ schrie sie, sich im Kreis
drehend und jeden Zentimeter der Stadt mit ihren Blicken verwirrt durchsuchend.
„Wo?“ Sie zerrte verzweifelt an den Arm des Polizisten. „Wo, verdammt noch mal,
wo ist er?“
„Sie kannten Herrn Rabe?“ fragte der Polizist ruhig und
emotionslos, während er sich sanft aus ihren Fängen befreite.
„Was?“ Antonias Stimme stockte. „Was?“ Sie trat ein paar
Schritte zurück.
„Ob sie das Opfer, Herrn Karl Rabe, kannten?“ wiederholte
der Mann in Uniform.
Antonia spürte lähmende Ohnmacht aufkommen und atmete den
schwindelerregenden Zustand ein und aus.
„Das ist sie! Das ist die Frau die ihn gestoßen hat!“
durchdringt plötzlich eine aufgebrachte Männerstimme die Stille ihrer
anbahnenden Bewusstlosigkeit.
Antonia erschrak. Sie kam wieder zu sich, heraus aus der Schwerelosigkeit
ihres Schreckens. Es herrschte Unruhe. Die Schaulustigen blickten sich
erschrocken um. Antonia drehte sich verwirrt im Kreis. „Ja, die da! Die mi’m
roten Mantel. Das habe ich genau gesehen!“ ertönte es erneut. „Sie hat mit dem
Mann gestritten, dann hat sie ihn von hinten über die Brüstung von der Brücke
gestoßen!“
Noch bevor die vergiftete Luft Antonias Lunge wieder
verlassen konnte, spürte sie schon die festen Griffe des Polizisten, von links
und von rechts und von überall.
„Bitte machen sie jetzt keinen Ärger und begleiten uns auf
die Polizeiwache!“ befahl die emotionslose Stimme und schob Antonia auf den
rechten hinteren Platz des Polizeiautos. Die Türen schlossen sich. Der Lärm der
Stadt verstummte. Der Regen prasselte wütend auf das Dach des Autos. Die Welt
stand still.
Auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, auf gleicher Höhe,
fuhr ein schwarzer Kleintransporter an. Der Fahrer lächelte zufrieden in sich
hinein.
„Opfer? Ist meinem Mann etwas passiert?“, Antonia starrte
den Polizisten neben ihr an. Ihre Unterlippe zitterte. Sie konnte sie nicht
unter Kontrolle halten. Der Polizist durchsuchte Antonias Brieftasche,
die er ihr vor dem Einsteigen abgenommen hatte. „Frau Rabe“, er starrte lange
auf ihren Ausweis in seiner Hand und vermied bewusst ihren Blickkontakt. „Wussten
sie, dass ihr Mann heute gegen 16 Uhr über die Obermünsterbrücke in die
Innenstadt fahren wollte?“ Sein Atem roch eindringlich nach Pfefferminz.
„Natürlich wusste ich das!“ Antonia wandte ihren Blick zum Fenster und blickte
weit hinaus in die Dunkelheit. Der Wagen hatte längst seine Fahrt zur
Polizeiwache aufgenommen und bog in die Südtangente ein. „Glauben sie etwa, ich
hätte was mit der Sache hier zu tun? Was ist denn eigentlich passiert? Wo ist
er überhaupt? Wieso sagt mir hier denn keiner was? Verdammt noch mal!“
Da wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf ein grelles
Licht, rechts, aus der Kreuzung kommend, gelenkt. Sie sah ein kurzes
Aufblitzen. Ein lauter Knall ertönte und das Polizeiauto wurde mit voller Wucht
in die Beifahrerseite gerammt. Mit großer Geschwindigkeit schob ein schwarzer
Kleintransporter den Wagen, in dem Antonia mit Handschellen gefesselt saß, quer
über die Kreuzung, über dem Zugübergang durch die Leitplanke. Das Polizeiauto
überschlug sich drei Mal und kam dann in einem kleinen Graben auf dem Dach zum Stillstand.
Das rechte Hinterrad drehte sich weiter.
Die ganze Stadt hielt für einen Augenblick den Atem an. Von
tief im Inneren des Wracks hörte man ein leises Wimmern.
Durch die zerbrochene Fensterscheibe spähte Antonia auf die
Straße, die verkehrt rum zu stehen schien. Sie atmete schwer. Aus ihrem Kinn
floss heißes Blut aus einer klaffenden Wunde, das sich eine brennende Spur
übers Gesicht, durch die Augen bis in ihre Haarspitzen bahnte. Jeder Atemzug
tat weh.
Ein Mann stieg leicht hinkend aus dem Kleintransporter aus
und öffnete die Beifahrertür eines daneben parkenden alten Wagens. Im
verschwommenen Glanzlicht der bunten grellen Scheinwerfer konnte Antonia sehen,
dass er etwas in der Hand hielt. Einen Schlüsselbund. Daran baumelte ein
kleiner weißer Lederschuh, mit zwei schwarzen Streifen. Antonia presste die
brennenden Augen zusammen.
Sirenen heulten auf. Der Mann stieg ein. Eine Dame im roten
Mantel ließ den Motor an und fuhr aus dem Lichtermeer der Stadt hinaus.
Monika C. Schmid